„Die Deutschen leben wieder in einem souveränen, freien und geeinten Land!“

Das waren die Begrüßungsworte von Nachrichtensprecher Werner Veigel (†) zu Beginn der „Tagesschau“ am 3. Oktober 1990.

Mit diesem Zitat endete ich meinen am exakt vor vier Jahren verfassten Audio-Blogartikel „Gedanken zum 25. Tag der Deutschen Einheit“. Heute kommt mir – mit eben diesen vier Jahren mehr an Lebenserfahrung – dieser Text erstaunlich naiv und visionär vor.

Neunundzwanzig Jahre leben wir jetzt in einem geeinten Deutschland. Einem Land, das in ungehemmten Wohlstand schwelt, schenkt man der volkswirtschaftlichen Größe Bruttoinlandsprodukt Glauben (Quelle: statista, Größte Volkswirtschaften: Länder mit dem größten BIP im Jahr 2018 [in Milliarden US-Dollar]). Einem Land, das auf dem europäischen Kontinent seit vierundsiebzig Jahren in Frieden leben kann. Einem Land, mit einem der größten Werte an Lebensqualität (Quelle: statista, Ranking der 20 Länder mit der höchsten Lebensqualität nach dem Best Countries Ranking 2019). Einem Land mit grundgesetzlich verankerten Freiheitsrechten wie Religionsfreiheit, Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit sowie der Versammlungsfreiheit.

Und doch scheint die Spaltung der Menschen in Deutschland ein neues, unangeahntes Ausmaß anzunehmen. Nach 29 Jahren zeigen die Deutschen gefühlt mehr denn je mit dem Finger auf andere und verhelfen Termini wie „Wessis“ und „Ossis“, „alte“ und „neue Bundesländer“, „die Nazis in Sachsen“ und die „Gutmenschen im Westen“ zu neuer Popularität. Rechtsradikale und faschistische Kräfte treiben an jeder erdenklichen Stelle Keile in die Gesellschaft, spalten und ergötzen sich an selbst dedizierten Parolen wie „Wende 2.0“. Plötzlich hetzen wir nicht nur gegen die allzu lang getrennten Bürger aus den jeweiligen Bundesländern, sondern auch mit Vorliebe gegen all das, was fremd und anders erscheint.

Zugegeben, Deutschland hat Probleme! Und die sind wahrlich massiv. Die Politik hat die Kernthemen unserer Gesellschaft in den letzten Jahren mutlos behandelt, falsch priorisiert, ausgesessen. Ob die Schere zwischen Arm und Reich, die deutliche Verfehlung von Klimaschutzzielen, Kinder- und Altersarmut, das zerbröckelnde Bildungssystem, die kaputte und weiter alternde Infrastruktur, Lobbyismus, Digitalisierung und viele weitere mehr, die hier anzuführen wären.

Aber rechtfertigt das, die gesamten Errungenschaften der Wiedervereinigung von der Deutschen Demokratischen Republik und der alten Bundesrepublik zu einem geeinten Deutschland rhetorisch abzubügeln? Rechtfertigt das, wieder in Ost und West zu denken? Erlaubt das eine Weiterführung der Rhetorik von „alten“ und „neuen Bundesländern“? Ist das eine Legitimation von Hass und Hetze gegen einzelne Bevölkerungsgruppen? Macht es die deutsche Problemlage vertretbar, Nazis in Parlamenten und Hakenkreuzen an Gebäuden wieder stillschweigend zu dulden?

Als ich die Worte von Werner Veigel als achtjähriger Junge sag, war ich noch nicht alt genug zu verstehen, was die Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Krieges für einen politischen Stellenwert besaßen. Ich erinnere mich nur daran, dass ich spürte, dass etwas Großes passiert war. Und ich erinnere mich, Tränen in den Augen bei der Betrachtung der glücklichen Menschen im Fernsehen zu haben.

Heute an diesem 03. Oktober 2019 ist wieder Tag der deutschen Einheit. Heute ist mir bewusst, was das bedeutet.

Es bedeutet nicht nur ein großes Gut, sondern auch eine riesige Verantwortung. Denn wer heute nicht für ein geeintes, demokratisch und menschlich agierendes Deutschland eintritt, Hass und Hetze entgegentritt, läuft Gefahr recht bald wieder einem mit großen Schritte heranwachsenden Faschismus zu begegnen.

Und wie Kabarettist Christoph Sieber so schön sagte: „Faschismus gibt es nicht nur ein bisschen.“