Wer dauerhaft Zug fährt, dem wird mehr und mehr Toleranz abverlangt. Der Zustand des Schienenverkehrs in Deutschland ist eine Katastrophe. Und als Bahn-Vielfahrer frage ich mich, ob mir nicht ein Auto die Zuverlässigkeit retten könnte.
Langsam schleppt sich der übervolle InterCityExpress über die Gleise. Die Klimaanlage stöhnt, die Gäste auch, denn die wurden gerade einmal quer über den Kölner Hauptbahnhof gehetzt. Eigentlich sollte der ICE von Frankfurt als „Sprinter“ direkt nach Düsseldorf fahren. Aber das tut er wie so oft nicht. Stattdessen werden wir direkt neben dem Kölner Dom abgesetzt. „Bauarbeiten“ seien schuld.
Ich will ehrlich sein. Ich kann es nicht mehr hören. Gleich ob Fernverkehr, ob ÖPNV. Es gibt keinen in der Verkehrsfachsprache als „Delaycodes“ zu sehenden Nominalsprachenbegriffe, den ich im letzten Dreivierteljahr nicht gehört hätte. „Späte Bereitstellung“, „Personen im Gleisbereich“, „Bauarbeiten“, „eingeschränkte Gleiskapazität“ oder „Notfalleinsatz“ – ich habe sie mittlerweile dauerhaft im Ohr oder in mahnend roter Schrift in meinen Reiseapps.
Seit fast zehn Jahren verzichte ich auf ein eigenes Kraftfahrzeug. Zum einen aus ökologischen Gesichtspunkten, zum anderen aus eigentlich fehlender Notwendigkeit heraus. Als Dozent bin ich häufig nach Düsseldorf – quasi meine Stammstrecke – unterwegs, mehrfach im Monat, ansonsten hauptsächlich im Großraum Frankfurt, der durch das Nahverkehrsgebiet des Rhein-Main-Verkehrsverbundes eigentlich gut erschlossen sein sollte. Eigentlich.
Die Deutsche Schieneninfrastruktur ist unzuverlässig wie nie, marode und kaputtgespart. Zu jedem Termin muss ich erhebliche Pufferzeiten einplanen von mindestens einer Dreiviertelstunde im Nahverkehr bis hin zu 2-3 Stunden im Fernverkehr, um mich bei neuen Geschäftspartner*innen nicht gleich als unzuverlässiger und unpünktlicher Businesspartner zu präsentieren. Kann ich mir das als Freiberufler erlauben? Ist das wirtschaftlich? Nein und nein.
Was die Verkehrsunternehmen Reisenden abverlangen, ist – gelinge gesagt – eine Frechheit. Ob mit der gleichzeitigen S-Bahn- und U4/U5-Tunnelsperrung in über satte sechs Wochen in Frankfurt und dem Rhein-Main-Gebiet oder ewig lange Umwege und Ausfälle auf Strecken des Fernverkehrsnetzes, der Kunde muss es einfach ertragen und hinnehmen. Zugegeben: die Kommunikation ist über die letzten Jahre etwas besser geworden. Aber gleichzeitig wird die erwartete Toleranz der Bahnkunden immer weiter nach oben getrieben.
Deutsche Bahn und Co. glänzen in den sozialen Netzwerken und bei Bahnsagen immer häufiger mit herrlicher Selbstironie. Was zunächst witzig wirkt, ist nichts anderes als die Flucht nach vorne im Abwälzen der eigenen Schwächen auf andere. Wie auch in anderen Branchen hat Deutschland verlernt, einen ambitionierten Selbstoptimierungsansatz zu verfolgen, sondern nimmt hin, was halt einfach gegeben ist: eine unterirdische Performance und in der Folge eine grauenvolle Customer Experience. Vielleicht muss bald doch ein Auto her. Auch um meine mentale Gesundheit zu retten. Denn das ständige Glücksspiel Bahn zehrt nicht nur sinnbildlich an den Nerven.
Immer häufiger sprechen mich internationale Kontakte auf den schlechten Zustand des Schienenverkehrs in Deutschland an. Und ich kann nur beipflichten. Wir sind damit nicht konkurrenzfähig. Am Besten fasst es dabei der Sohn der ukrainischen Geflüchtetenfamilie zusammen, der nach eineinhalb Jahren in Deutschland subsummiert: „Wir haben einen scheiß Krieg in meiner Heimat, und dennoch fahren die Züge zehnmal zuverlässiger als hier.“
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