Die ständige Dauerregung in den Sozialen Netzwerken nervt. Warum lassen wir uns durch unsere Filterblasen verblöden? Warum glauben wir, dass unsere Meinung die einzig richtige sein kann? Eine Abrechnung mit der digitalen Welt.

Die Einführung der Sozialen Netzwerke mag vielleicht die größte, unbewusst herbeigeführte soziale Revolution der letzten Jahrzehnte zur Folge gehabt haben. Die Möglichkeit, sich dauerhaft zu allem und jedem äußern zu können, hat aus dem Allerweltsmenschen ein egozentriertes Machtinstrument gemacht.

In anderen Worten: die Meinung des einzelnen gewinnt an Gewicht. Oder es erweckt zumindest den Anschein, als ob das so wäre. Während früher nur belesene Kritiker oder sachkundige Insider sich zu für sie relevanten Themen geäußert haben, kann heute jeder x-beliebige Mensch jeden x-beliebigen Umstand kommentieren, bewerten oder zerreden. Das Internet scheint jedem Individuum plötzlich eine Stimme zu geben. Und genau das ist ein Irrglauben.

Eine Stimme; die Möglichkeit, sich in die Demokratie aktiv einzubringen, gab es auch vor den Sozialen Netzwerken schon. Jedem stand es frei, Parteiarbeit zu leisten, jeder konnte Briefe an die Lokalpolitik schreiben, jeder konnte sich als Rezipient journalistischer Produkte gegenüber dem jeweiligen Medium äußern. Neu ist letztendlich nur, dass die Barriere sich einzubringen, erstaunlich flach geworden ist.

Was die Netzgemeinde in der Konsequenz (ich nehme mich da nicht aus) als gelebte Meinungsfreiheit abfeiert, führt doch gesamtgesellschaftlich zu einer Überschätzung des Individuums. Die eigene Meinung ist längst grundgesetzgestützt zu einem Ego-Wertekompass verkommen, der die eigene Weltanschauung glorifiziert, andere Meinungen obsolet macht und die Empathie anderen Ansichten und konträren Aussagen gegenüber mit einer Vehemenz auslöscht, als ob man mit einem Marschflugkörper ein Bienennest entfernen wolle.

Soziale Netzwerke vereinfachen und zwingen Autoren durch Zeichen- oder Anzeigebegrezungen, auch hochkomplexe Zusammenhänge zu paraphrasieren. Zudem wird die eigene Wunschwelt in Form der individualisierten Filterblase reflektiert und im eigenen Weltbild bestätigt. Das verengt den Horizont. Algorithmen bestimmen heute die Relevanz von Informationen in der eigenen Lebenswirklichkeit, nicht mehr klassische Massenmedien wie Zeitung oder Fernsehen. Das führt zu dem Paradoxon, dass wir trotz immer komplexer werdender geopolitischer Vorgänge eigentlich immer weniger wissen: wir verdummen. Was der konservative, weiße, deutsche Mann jetzt mit einem „Ich weiß nur das, was ich wissen will“ weglächeln würde, führt zur absoluten Selbstüberschätzung des Ichs.

Diese Selbstüberschätzung ist es, die Polarisierung und Radikalität einen Nährboden bereitet. Mit dem Gefühl, dass die eigene für sich stehende Meinung Restaurants abwerten, Unternehmen ihren schlechten Kundenservice um die Ohren hauen lassen sowie politische Diskussionen beeinflussen kann, spürt der einzelne Benutzer eine neue, unbekannte Meinungsmacht. Und die wiederum führt zur Dauererregung und dem altbekannten Gut-Böse-Motiv, hinter dem sich Trolle und Manipulatoren verstecken und enthemmt schalten und walten können.

Vielleicht täte es der Gesellschaft gut, in drei einfachen Schritten wieder in eine gesunde Selbstreflektion einzutreten. Erstens Gehirn einschalten. Wer mitreden will, sollte Hintergründe kennen, verschiedene Perspektiven gelesen und eingenommen haben und dann in die Diskussion eintreten. Zweitens: Realisieren, dass eine Diskussion nicht bipolar geführt werden kann und schon gar nicht zwingend von der eigenen hochemotional geprägten Ego-Meinung abhängig ist. Drittens: andere Wege suchen. Die Sozialen Netzwerke bieten zwar die geringste Zugangsschwelle, sich an Diskussionen zu beteiligen. Wer aber den Mut hat, das unmittelbare und direkte Gespräch zu suchen, wird überrascht sein, wie erquickend komplexe und persönliche Kommunikation sein kann.

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