Audiotext zum Nach- und Mitlesen:

Seien es regionale Tageszeitungen, seien es überregionale Medien wie die WELT oder N24: hinter uns liegt eine Woche, in der gleich mehrfach getitelt wurde: „Haben die Deutschen das Höflichsein verlernt?“

Nun, was uns subjektiv schon lange beschlichen hatte, hat nun das britische Markt-  und Meinungsforschungsinstitut YouGov in einer Studie klären lassen. 75 Prozent — also drei von vier Deutschen — finden dieser Studie nach, dass früher die Menschen höflicher waren. Genauso viele Leute übrigens halten jüngere Menschen für zu respektlos gegenüber älteren Menschen.

Nun könnte man auf die Idee kommen, dass sich in diesen Ergebnissen die üblichen Generationenklischees niederschlagen, getreu dem Motto „Früher, da war alles besser“. Dem ist aber nicht so. Denn schenkt man dieser Studie glauben, besteht der Wunsch nach mehr Rücksicht und Höflichkeit durchweg durch alle befragten Altersstufen.

Die Studie liefert noch weitere deutliche Meinungspositionen. 94% der Menschen finden, dass man den Sitzplatz im Zug Menschen mit eingeschränkter Mobilität, Älteren oder Schwangeren anbieten sollte. 78 Prozent folgen gedanklich dem Knigge und finden es höflich, wenn Männer Frauen an der Tür den Vortritt lassen. Und neun von zehn Menschen können es gar nicht leiden, wenn jemand bei einer Unterhaltung gleichzeitig mit seinem Mobiltelefon beschäftigt ist.

Nun werden Sie sagen: „Ist doch alles gut!“ Zumindest auf dem Papier, denn seien wir ehrlich… diese Werte spiegeln alles wieder, nur nicht das, was uns tagtäglich begegnet.

Ich komme aus Frankfurt am Main und fahre dort öfter mit den hiesigen öffentlichen Verkehrsmitteln. Dass für Rentner, schwer bepackt mit Einkaufstüten, jemand seinen Sitzplatz räumt, habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Dass es zum Alltag in U- und S-Bahnen gehört, dass Frauen mit Kinderwagen sich vor den Zugtüren hin- und herschubsen lassen müssen, nur damit einem vermeintlich Schnelleren ein Sitzplatz zuteilwird, ist traurige Realität. Und mit den Geschichten über die Benutzung von Mobiltelefonen in Gesprächssituationen könnte ich einen ganzen Beitrag füllen.

Wo sind sie also, diese Menschen, die in Umfragen zum Besten geben, dass uns mehr Höflichkeit gut täte?

Wahrscheinlich ist es so, wie mit den Umfragen zum Autofahren. Fast 50% der Deutschen behaupten ja, dass sie sich regelmäßig im Straßenverkehr über andere Verkehrsteilnehmer aufregen. Komisch, dass es gleichzeitig nur 5% sind, also nur jeder Zwanzigste Autofahrer, der sich zu eigenen Fahrfehlern bekennt.

Und so wird’s dann wohl auch mit der Höflichkeit gehandhabt. Es ist der klassische Fall von „Wasser predigen und Wein trinken“. Das Problem ist mal wieder nicht die allgemeine Wertevorstellung per se, sondern das Leben nach selbiger. Und dafür werden wir Deutschen einfach zu bequem. Findet zumindest zu 100% der Autor dieses Kommentars.