Audiotext zum Nach- und Mitlesen:

Es ist menschlich, dass uns der Fall des Germanwings-Fluges fassungslos macht, uns nach Erklärungen suchen und ringen lässt. Wenn ein Pilot – so nimmt man es nach derzeitigem Kenntnisstand ja an – 144 Passagiere und fünf weitere Besatzungsmitglieder in den Tod reißt, so ist das eine Tragödie. Das steht außer Frage.

Die noch größere Tragödie ist jedoch der Umgang der Gesellschaft mit dem Kernproblem. Und das heißt Depressionen. Glaubt man der Statistik der Deutschen Depressionshilfe, dann sind in etwa 5% der bundesdeutschen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren an einer behandlungsbedürftigen Depression erkrankt. Tendenz steigend. Besonders besorgniserregend ist die Zahl der durch Depressionen ausgelösten Suizide. In der Altersgruppe der 15-35-jährigen Menschen liegt der Suizid nach Unfällen an zweiter Stelle der Todesursachen. Mehr als 10.000 Menschen lassen pro Jahr durch Suizid ihr Leben. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.

Es ist dieser eine Fall, dieser eine Mensch, der 149 andere Menschen mit in den Tod gerissen hat, der dieses Thema Depressionen plötzlich wieder in den Fokus der Öffentlichkeit rückt. Fatalerweise genau so lange – und das hat die deutsche Medienlandschaft mehrfach bewiesen – bis die ersten Antworten gemutmaßt und der erste Aktionismus angestoßen wurde.

Beispiel: Bayerns Innenminister Joachim Herrmann von der CSU sprach sich gegenüber dem FOCUS für ein Berufsverbot für Inhaber einer Fahrerlaubnis oder Pilotenlizenz aus – nach einer medizinischen Begutachtung. Zitat:

Wenn diese zum Ergebnis kommt, dass etwa ein Pilot, ein Busfahrer oder ein Taxifahrer dauerhaft nicht mehr geeignet ist, Menschen oder sonstige Güter zu transportieren, ohne dass Gefahr für Leib und Leben anderer besteht, dann kann solchen Personen auch der Führerschein bzw. die Lizenz entzogen werden.

Ergo: ein Berufsverbot für Menschen, die an Depressionen leiden.

Das ist eine Stellungnahme dazu, im Internet finden sich viele, viele andere, die gesetzliche oder regulative Maßnahmen nach diesem Vorfall einfordern. Und diese Positionen: sie alle gehen am Thema vorbei und werden nur dafür sorgen, dass das Thema Depressionen so schnell wieder in der Öffentlichkeit versinkt, wie es aufgetaucht ist.

Denn kaum jemand ist bislang bereit, sich der Frage zu stellen, warum in unserer Gesellschaft Depressionen zum immer größeren Problem werden. Kaum jemand ist bereit, die Werte unserer Leistungsgesellschaft in Frage zu stellen. Kaum jemand wird sich damit auseinandersetzen, dass wir schon Kindern immer mehr Druck zumuten, immer mehr erwarten. Kaum jemand registriert, dass Menschen an dieser, an unserer Gesellschaft zerbrechen. Kaum jemand ist bereit zu erkennen, dass wir alle nicht nur von depressiven Mitmenschen umgeben sind, nein, dass wir es sind, die diese Gesellschaft zu dem machen, was sie ist. Für einige Menschen so untragbar, dass sie bereit sind, sich und anderen das Leben zu nehmen.