Manchmal reicht ein kurzer Moment, um zu wissen, dass etwas nicht stimmt. So erging es mir 2020 auf einer kleinen Spaziertour durch die nordwestlichen Stadtteile Frankfurts. Und manchmal reicht es schon, einen Hinweis an der richtigen Stelle zu machen, um eine kleine, aber wichtige Veränderung anzustoßen.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich auf meinen Spaziergängen an der Straßenkreuzung Zehnmorgen- und Anne-Frank-Straße in meiner Heimatstadt Frankfurt vorbeikomme. Aber dennoch stört mich an diesem 22. Juli 2020 etwas. Das erste Mal fällt mein Blick auf das tiefblaue Straßenschild an der Anne-Frank-Straße, genauer gesagt auf das kleine Erläuterungsschildchen darunter. Ich lese:
„Anne Frank, 1929-1945, Tagebuchverfasserin, als Jüdin im KZ Bergen-Belsen umgekommen“.
Ich halte kurz inne. Umgekommen? Das kann doch nicht richtig sein. Umgekommen? Umgekommen. Ja, das steht da. Und meinem Sprachgefühl widerstrebt das sehr. Ist Anne Frank umgekommen oder wurde sie viel mehr ermordet? Ich zwinge mich, den Duden aufzuschlagen. Das Rechtschreibwörterbuch definiert „umkommen“, als „durch einen Unfall, bei einem Unglück den Tod finden; ums Leben kommen“. Passt dieses Wort zum systematischen Morden des NS-Regimes, dem Massenmord in den Konzentrationslagern? Nein, das tut es nicht.
Mein Gerechtigkeitssinn rebelliert und ich öffne mein Smartphone, um folgenden Tweet an die Stadt Frankfurt abzusetzen:
Was folgt ist ein Austausch, der allen Resentissements gegenüber kommunalen Behörden trotzt. Binnen weniger Tage wurde mein Anliegen bis hin zum zuständigen Stadtvermessungsamt weitergeleitet, das sich auch für die Straßenbenennung und in der Folge auch für die Erklärschildchen an den Straßenschildern verantwortlich zeichnet. Im folgenden Mailverkehr wurde freundlich Prüfung versprochen. Dann kam der Höhepunkt der Coronaviruspandemie und wir alle hatten wohl andere Sorgen, als die Änderung eines Straßenschildes.
"Anne Frank, 1929-1945, Tagebuchverfasserin, als Jüdin im KZ Bergen-Belsen umgekommen."
Altes Straßenschild der Anne-Frank-Straße in Frankfurt am Main
Als die zweite Welle der COVID-Pandemie über Deutschland schwappte, erhielt ich eine weitere Mail vom Stadtvermesserungsamt. Der zuständige Bearbeiter ließ mich wissen:
Seit Ihrer lobenswerten Anregung, den Text des Zusatzschildes der Anne-Frank-Straße zu überarbeiten, haben wir den fachkundigen Rat des Jüdischen Museums und der Begegnungsstätte Anne Frank gesucht. Deren Untersuchungsergebnisse legten uns den Rat nahe, die Schilder auszutauschen.
Somit konnten wir neue Zusatzschilder mit verändertem Wortlaut in Auftrag geben:
Anne Frank, 1929 – 1945, Tagebuchverfasserin, Als Jüdin im KZ Bergen-Belsen ermordet.
Ein angenehmes Glücksgefühl durchströmt mich. Habe ich hier mit allen Beteiligten eine sprachliche Ungerechtigkeit entschärfen können? Ja, vielleicht. Dennoch stellt sich mir eine Folgefrage: warum ist das niemandem über solch eine lange Zeit aufgefallen? Ich tröste mich mit dem Fakt, dass Anne Frank in ihrer Geburtsstadt Frankfurt so bekannt ist, dass viele geschichts- und heimatinteressierten Bürger*innen gar nicht erst auf das Schildchen schauen mussten. Und letztendlich spielt das keine Rolle mehr. Denn diese sprachliche Unschönheit wird jetzt ausgebessert.
Und so nimmt eine kleine Geschichte ein schönes Ende. Zwar mussten sich Frankfurt und wir alle um zwei weitere Coronawellen kümmern, bevor die Schilder ausgetauscht werden konnten. Aber jetzt, wo ein Stückchen Normalität wieder hergestellt scheint, blitzen auch die neuen Schilder an den beiden Enden der Anne-Frank-Straße in neuem Glanz und mit sprachlich akkuratem Text.
Und ich darf mich in diesem Kontext sehr herzlich beim Social-Media-Team und natürlich hauptsächlich beim Stadtvermessungsamt der Stadt Frankfurt bedanken, aber ganz genauso bei den Historiker*innen des Jüdischen Museums sowie der Begegnungsstätte Anne Frank. Diese Geschichte macht Mut. Denn sie zeigt, dass in Deutschland positive Veränderungen mit den richtigen Hinweisen an den richtigen Stellen doch nicht im Bürokratiedschungel versinken. Und sie zeigt auch, dass wir uns immer wieder mit unserer Erinnerung an die schlimmsten Zeiten in unserer Geschichte auseinandersetzen müssen. Sprache und manchmal eben auch ein einzelnes Wort machen den Unterschied!
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