Symbol für eine Triggerwarnung Dieser Text enthält Informationen über eine Musicalvorführung, in der das Thema Suizid behandelt wird. Die Beschreibung des Gesehenen könnte emotionale Reaktionen hervorrufen und ist möglicherweise nicht für alle Leser*innen geeignet. Wenn Sie/Du oder jemand, den Sie/Du kennen, Unterstützung in Bezug auf Suizidgedanken benötigt, empfehlen wir, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ressourcen dazu gibt es hier.

Im Düsseldorfer Capitol gastiert das Musical mit den Songs der Deutsch-Rockband „PUR“. Fans der Band kommen bei den Klassikern „Lena“, „Ein graues Haar“ und „Freunde“ vollends auf ihre Kosten. Die Einreise ins „Abenteuerland“ kostet mit Bezug auf die Lyrics zwar nicht den Verstand, jedoch eine hohe Triggerresilienz.

PUR dürfte wohl die einzige deutsche kommerziell über lange Zeit erfolgreiche Band sein, auf die das „Bild-Zeitungs-Klischee“ zutrifft. Fragt man Menschen in seiner Umgebung, will keiner die Band aus Bietigheim-Bissingen hören, die Konzerte sind aber nicht nur über Jahrzehnte ausverkauft, sondern viele Menschen können die Titel der Rockkombo aus dem Eff-Eff mitträllern.

So verwundert auch nicht, dass das Düsseldorfer Capitol ein ums andere Mal ausverkauft ist, wenn das Musical „Abenteuerland“ mit den Hits von Hartmut Engler, Ingo Reidl und Co. aufspielt. Und das trotz eines Investments von deutlich über Einhundert Euro für eine Karte der ersten Reihe, also nicht zwangsläufig Kultur-Sparpotenzial.

Ein Musical mit PUR-Songs: kann das funktionieren?

Das Bühnenbild offenbart schon vor Showbeginn mit vier freigelegten großen LED-Displays, das mit szenischen Effekten nicht gespart werden wird. Vorhang aus den besagten bewegbaren Screens auf und eine Wucht von Darsteller:innen beginnt atmosphärisch mit dem Intro zu „Abenteuerland“, dem namensgebenden Titel vom gleichnamigen Album aus 1995 – damals mit dreifach Platin dekoriert. Es folgen zwei angemessen lange Musikteile, in denen keiner der PUR-Smash-Hits fehlen darf, garniert mit einer hochemotionalen Story, die Besucher*innen erst im Laufe der Show erahnen lässt, warum Triggerwarnungen an beiden Saalentrees angebracht sind.

Im Mittelpunkt steht die typisch deutsche Klischeefamilie Schirmer mit Single-Income-Two-Kids, die sich im Laufe des Programms in sämtlichen ausmalbaren Problemen verstrickt: Ehekrise, Pubertät der Tochter, Adoleszenz des Sohns, ein vergessener Geburtstag, Seitensprung und eine ungewollte Schwangerschaft mit einer Frau aus einem anderen Kulturkreis. Dazu sammelt der Sohn noch seine ersten Meriten mit der Schülerband „Crusade“. Insider wissen an dieser Stelle schon längst, dass dies einer von zwei ehemaligen Bandnamen war, bevor die Schwaben zu PUR wurden.

Natürlich ist die zusammengestrickte Story keine Weltliteratur. Muss es aber auch gar nicht sein. Viel mehr ist die emotional aufgeladene Geschichte der nötige rote Faden, den es braucht, um die vielfältigen Erzählungen aus den Lyrics von PUR zusammenzuspinnen. Und das gelingt hervorragend. Auch weil die Arrangements hervorragend auf die einzelnen Darsteller*innen und ihre Fähigkeiten zusammengestellt sind. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass man sich für die Dauer der Vorführung von Hartmut Englers breiter Stimm- und Gesangspalette verabschieden muss. Dies sei gar nicht als Kritik zu verstehen, denn das durchaus durchschnittliche, im Falle der Senioren Karl (Harrie Poels) und Oma Lena (Bärbel Röhl) auch spießig anmutende Singen verleiht der Geschichte eine Bezugsebene, die sich in jeder Familie so zutragen könnte. Die Texte der Lieder sind nicht immer originalgetreu übernommen, sondern situativ angepasst.

Grundsätzlich werden nicht nur PUR-Fans bei „Abenteuerland“ auf ihre Kosten kommen, wenn gleich das Musical thematisch etwas zu überladen ist. Die Show ist hervorragend choreografiert, sehr gut gespielt und bietet Jung und Alt auf der ellyptisch geformten und dynamisch bespielten Bühne viel zu sehen und besonders zu fühlen. Das spiegeln auch die deutlich positiven Internetreviews auf Google, Eventim und Facebook wieder. Nichtsdestoweniger gibt es bei viel Bühnenlicht auch Schatten, ganz getreu dem PUR-Klassiker „Weißt Du nicht“.

Sollten Drachen tatsächlich fliegen?

Im zweiten Teil der Show wird deutlich, worum es konkret bei der zuvor erwähnten Triggerwarnung geht. [Anmerkung: diesen Spoiler berichtet der Verfassende bewusst, um klarzumachen, wie ernst das Thema ist, vor dem eigentlich erst bei Betreten des Showsaales gewarnt wird] Tochter Anna wird aufgrund zahlreicher Rückschläge und dem Gefühl von Nicht-Akzeptanz in einen Suizidversuch getrieben, der glücklicherweise scheitert. Ob es dieses Stilmittel für eine gelungene Story gebraucht hätte, darf bezweifelt werden – auch als Erzählelement, um die Verkettung der Songs zu gewährleisten, wäre es wohl vermeidbar gewesen. Erstrecht ob der Themendichte, an der sich das Musical abarbeitet. Die Schockstarre im Saal ließ einem auf jeden Fall das Blut in den Adern gefrieren. In dem bewusst eingebauten dramatischen Element der Stille auf der Bühne waren im Publikum deutliche Schluchzer zu hören.

Den zweiten Wertmutstropfen spüren eingefleischte PUR-Fans gleich von Beginn an. Kaum erklingt die erste bekannte Liedzeile spürt man, wie der Saal mitsingen und mitklatschen möchte. Aber die Unsicherheit überwiegt, ob und wie das angemessen wäre. Und daher bleibt es so still im Saal, als ob man statt der deutlich beliebteren Live-Platten ein Studioalbum von PUR aufgelegt hätte. Hier wäre eine Einleitung in das Musical tatsächlich erlösend. Denn diese das gesamte Musical bestehende Spannung wird erst bei der Zugabe aufgelöst, bei der das Ensemble explizit zum Mitmachen auffordert. Die Zuschauerschaft quittiert dies mit Standing Ovations und erlösendem Mitsingen. Wie bei den Konzerten, die ja angeblich niemand besuchen will, singt dann jeder mit: textsicher wie aus dem Eff-eff.