Audiotext zum Nach- und Mitlesen:

Wenn heute um Mitternacht die Sektkorken knallen, werden wir ein Jahr zurücklassen, dass wie kaum ein anderes das Sinnbild des Bösen personifiziert. Kaum ein anderes Jahr wird so eine verheerende Wirkung zugeschrieben, wie 2016, kaum ein Jahr bekam den Teufel so auf den Laib geschrieben. Der Zeit-Online-Journalist Dirk Gieselmann verbildlicht diese abgelaufenen zwölf Monate als (Zitat):

„[…] fies grinsender Barkeeper, der uns die Rechnung auf den Tresen knallt für die glückliche, unbeschwerte Zeit. Für unsere Jugend, in der uns die historisch so seltene Möglichkeit zuteil wurde, leben zu können, als gäbe es kein Morgen.[…]“

Nun darf vortrefflich darüber gestritten werden, was genau dieses Jahr 2016 so düster in unsere Erinnerung schrieb. Waren es die vielen Todesfälle unserer musikalischen Jugendhelden? Leonard Cohen? David Bowie? Glenn Frey? Roger Cicero? Prince? Oder als ob es der ironische I-Punkt des Jahres gewesen sei, George Michael am 1. Weihnachtsfeiertag?
Waren es weltpolitische Persönlichkeiten, wie Boutros Boutros-Ghali, Fidel Castro, Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher, Guido Westerwelle oder die Schlüsselfigur im Ringen um Frieden in Nah-Ost, Schimon Peres?
Die Liste ließe sich noch minutenlang fortsetzen. Ob Muhammad Ali, ob Manfred Krug, ob Bud Spencer, ob Götz George oder Peter Lustig, jeder hat mindestens ein Stück seiner eigenen Identität in 2016 verloren.
Der Tod war eines der Leitmotive dieses Jahres. Die Kriege in Syrien, in der Ostukraine, die Bürgerkriege in Libyen, im Südsudan, in Mali, und so weiter, der Krieg gegen den sogenannten „Islamischen Staat“, sie alle konfrontieren uns tagtäglich mit schrecklichen Bildern und halten uns vor Augen, wie sehr sich der Flächenbrand von Gewalttaten, Verfolgung, Vernichtung, von Menschenrechtsverletzungen und leidender Zivilbevölkerung über diesen Planeten zieht.
Das Paradoxe daran. Bislang blieben wir von all‘ dem verschont. Europa lebt in Frieden. Und das bereits seit 71 Jahren. Ich gehöre bereits zur zweiten Generation, die noch nie in ihrem Leben in Kampfhandlungen verwickelt wurde. Das ist keine Selbstverständlichkeit, das ist ein unendlich hohes Gut für mich!
Dazu leben wir noch im Weltvergleich überdurchschnittlich wohlständig. Nichtsdestoweniger lassen wir uns alle vom Hass, der Intoleranz und der Hetze verleiten und verführen. Im Alltag, in den sozialen Netzwerken und natürlich in der Politik.
Der selbsterklärte demokratische Westen – er steuert in so wunderbar betitelt „postfaktische“ Zeiten. Ein Paradies und eine Sternstunde für Populisten und Rattenfänger jeglicher Couleur. Ob Le Pen, ob Petry, ob Wilders oder Orbán. Sie alle wittern nach dem überraschenden Sieg von Donald Trump in den USA ihre Chancen.
Und das bringt mich zur eigentlichen Tragik von 2016. Der Blick in die Zukunft. Der Blick hin zu unseren Kindern. Welche Signale senden wir heute an die junge Generation aus, welche Werte geben wir den Kids von heute mit? Ich fürchte keine Guten. Denn wie soll ich Kindern erklären, warum man nicht lügen soll, warum man zuverkommend sein soll, warum man diskutiert statt beschimpft. Warum man miteinander existieren muss. Warum man Gründe und Argumente haben muss, um seine Meinung zu verteidigen. Diese Fragen kann ich mir selbst schon nicht beantworten. Wie soll ich einem Kind klarmachen, dass die guten Werte, die wir unseren Kindern mitgeben wollen, genau konträr zu dem sind, wie Donald Trump beispielsweise US-Präsident geworden ist?
Das Jahr 2016 geht zu Ende und innerlich mag so mancher ein ungutes Gefühl für das Folgejahr verspüren. Eine subtile Angst, vor dem, was da kommen mag. Im Hinblick auf bekannte Erfahrungen der europäischen und Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts kann man auch nichts Gutes erahnen. Auf der anderen Seite sehen wir von der Talsohle auf die Bergstation und wissen, dass es nur bergauf gehen kann. Ganz getreu der Lebensphilosophie „Yolo“, das in der Jugendsprache für „You only live once“ steht, also „Du lebst nur einmal“.
Und genau das ist das Zehrende an diesen Zeiten. Dass wir mit einem innerlichen Konflikt betraut werden. Der vorhin zitierte Journalist Dirk Gieselmann betitelte das mit der „unerträgliche(n) Gleichzeitigkeit des Seins“.
Wahrscheinlich ist genau das die Herausforderung dieses besonderen Jahreswechsels. Oder aber um es mit den Worten eines weiteren verstorbenen klugen Mannes zu sagen, nämlich dem Intellektuellen Roger Willemsen:

„Was das Wichtige ist: gib dem Leben überhaupt einen Sinn, eine Bedeutung, die über den Spaß hinausgeht.“

Um die Brücke zur Metapher des Journalisten Dirk Gieselmann aufzugreifen: „Barkeeper, zahlen bitte!“

Quellen