Genau vor einem Jahr am 19. Februar 2020 hat ein rassistischer Täter in Hanau neun Menschen ermordet. Diese grausame Tat wirft noch heute multiple Fragen auf, unter anderem hinsichtlich der Rolle der Polizei vom Tatzeitpunkt bis heute. Eines scheint klar: Rassismus sitzt noch tief in der deutschen Gesellschaft. Und das macht es erforderlich, dass die Namen der Ermordeten nicht vergessen werden. Das sind wir ihnen schuldig.

Mir rollen Tränen über die Wange, als ich Minute um Minute der ARD-Dokumentation „Hanau — Eine Nacht und ihre Folgen“ auf dem Smartphone ansehe. Betroffenheit und Wut steigen in mir hoch als ich gedankenverloren meinen Flur auf und ab laufe. Ich spüre die selbe Hilflosigkeit, die ich genau vor einem Jahr gefühlt habe, als ich den Liveticker über das Attentat in Hanau auf dem gleichen Gerät verfolgt hatte.

Die unfertig geschriebenen Lebensgeschichten, die aus rein rassistischen Motiven heraus plötzlich ausgelöscht wurden, sind genauso schmerzvoll, wie die Gefühle und offenen Fragen der Angehörigen. Sie bleiben trotz der Solidarität aus der Gesellschaft heraus vom Staat unbeantwortet. Um diese Fragen besser zu verstehen, empfehle ich dringend das Ansehen der eben genannten Dokumentation von Marcin Wierzchowsksi.

  

Wie tief der institutionelle und behördliche Rassismus verankert ist, zeigt der Umgang mit der Tat selbst, aber auch der Umgang der Behörden mit den Verbliebenen. Dass bis heute Ermittlungen verschleiert, nicht eingeleitet oder intransparent geführt werden, ist inakzeptabel und ein Fußtritt gegen diejenigen, die ihre Liebsten bei diesem Attentat verloren haben. Umso wichtiger ist, dass wir genau zuhören, was sie zu sagen haben. Und in der Konsequenz hinschauen, was hier im Argen liegt. Und damit ist zweierlei gemeint: die fachlichen Versäumnisse rund um die Tat selbst (Warum wurden die Notrufe nicht beantwortet? Warum hat die Polizei den versperrten Notausgang des Tatorts billigend in Kauf genommen?), als auch der hinter dem System steckende, pauschale und institutionelle Rassismus.
 


 
Rechtsradikales Gedankengut schwelt in der deutschen Gesellschaft seit jeher. Auch wenn wir es aus historischer Erfahrung besser wissen müssten. Eine Entnazifizierung nach dem Krieg ist maximal oberflächlich durchgeführt worden. Leider gehört trotz der furchbaren Erfahrung des zweiten Weltkrieges klar rassistisches Gedankengut nach wie vor zur deutschen Gesellschaft. Mit Hilfe von offen rechtsradikal ausgerichteten Parteien, allen voran der sogenannten „Alternative für Deutschland“ sind die menschenverachtenden Ideologien nach Jahrzehnten im Untergrund wieder an die Oberfläche getragen worden. Und auch wenn es sich phrasendreschend anhören mag: aus Worten folgen immer Taten. Das Attentat von Hanau reiht sich hier in eine gesamte Serie von rassistischen und rechtsextremen Gewalttaten ein, die sich seit den 1990er Jahren in Deutschland zugetragen haben: Mölln, Solingen, Lübeck, Halle und zahlreiche andere Tatorte sind hier aufzuführen.

"Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst."

Ferhat Unvar

#SayTheirNames — warum das unabdingbar ist!

Neun Menschen wurden aus dem Leben gerissen, weil genau dieses rassistische Gedankengut den Täter zum Morden veranlasst hat. Gegenwehr und klare Kante können leider die getöteten Menschen nicht wieder zum Leben erwecken, sind aber dennoch bürgerliche Verpflichtung über alle moralisch-legitimen politischen Einstellungen hinaus. Anders gesagt: wer sich nicht klar gegen faschistoide Gedankenströmungen, Rechtsradikalismus und Rassismus positioniert, der verhilft durch sein „Mitschwimmen“ genau diesen Tätern.
 

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Dass der Staat in Form seiner Polizei hier kein glückliches Bild abgibt, ist nach der Beleghaftigkeit der vielen journalistischen Fragen (siehe auch den eingebetten MONITOR-Bericht oben) nun mehr jedem klar. Fraglich bleibt jedoch, inwieweit gewisse Inkompetenzen in der Bewältigung der Folgezeit des Attentats tatsächlich Schwachstellen des Polizeiapparats aufdecken oder schlichtweg einen Beleg für institutionellen Rassismus darstellen. Erweitert man die Perspektive rund um den politischen Umgang der CDU-geführten Landesregierung um den sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) bzw. die mangelhafte Aufklärung rund um die NSU 2.0-Drohbriefe, drängt sich förmlich der Eindruck auf, dass dieser institutionelle Rassismus nicht nur toleriert sondern auch proaktiv gedeckt wird.

Es ist an uns, die Namen der Ermordeten immer wieder zu nennen. Nicht nur, um klarzumachen, für welche Werte diese Gesellschaft wirklich einsteht, sondern auch, um das dem Staat und seiner Exekutive abzufordern, was er den Familien, den Freunden und Partner der Ermordeten schuldig ist: Antworten.

Und während mir weiterhin Tränen die Wange entlang kullern, rufe ich die Namen laut durch meine Wohnung. In tiefster Hoffnung, dass viele empathische Menschen nicht nur an diesem Tag das Gleiche tun.

Gökhan Gültekin
Sedat Gürbüz
Said Nesar Hashemi
Mercedes Kierpacz
Hamza Kurtović
Vili Viorel Păun
Fatih Saraçoğlu
Ferhat Unvar
Kaloyan Velkov

Graffito an der Friedensbrücke in Frankfurt am Main zum Gedenken der beim rassistisch motivierten Anschlag in Hanau 2020 getöteten Menschen.
Graffito an der Friedensbrücke in Frankfurt am Main zum Gedenken der beim rassistisch motivierten Anschlag in Hanau 2020 getöteten Menschen.
#SayTheirNames