Wehmut kommt in mir auf, als ich diese großen, rotweiß lackierten Waggons ein allerletztes Mal rollen sehe. Souverän zeigt der Fahrtzielanzeiger klar und schnörkellos an, welches Ziel die drei aneinandergekoppelten Wagen anstreben: „U1 Römerstadt“. Der starke Elektromotor surrt kräftig in seiner unnachahmlichen Frequenz, die sich in den letzten dreißig Jahren kaum verändern hat. Nur die kleine Steigung, die der Zug vor sich hat, quittiert der Motor mit einem kleinen Unterton, als wolle die Mechanik darauf hinweisen, dass die Bahn zwar in die Jahre gekommen sei, aber solche Anstrengungen noch mühelos meistern kann.
Alles an diesen Waggons stammt aus anderen Dekaden, fühlt sich aber dennoch einladend und warm an. Die rechteckigen, aber abgerundeten Scheiben, die rautenförmige Duewag-Herstellerplakette, die massiven und grün beleuchteten Knöpfe zum Türöffnen, die weichen Kanten des Wagendaches, die von den parallelogramm-förmigen Stromabnehmern konterkariert werden, die hervorstehenden und so die Passanten grüßenden Rückspiegel und nicht zuletzt das runde Scheinwerferkabinett, das der Zugfront ein imaginäres, freundliches Gesicht zeichnet, aus dessen Augen der Schienenbahnfahrer hinaus auf die Strecke schaut.
Plötzlich sehe ich mich selbst als Kleinkind an der Hand meiner Mutter auf dem Bahnsteig der Station „Bonames Mitte“, neugierig auf die U-Bahn wartend. Hinter mir der blaue Fahrkartenautomat des Frankfurter Verkehrsverbundes, FVV, dessen Mechanik noch Häuserblocks weiter zu hören war. Vor mir der Blick auf den Gegenbahnsteig mit seinem Kiosk, der voller kindlicher Verlockungen war. Als der U-Bahn-Zug einfuhr, quengelte ich unsäglich, wollte ich doch unbedingt den Knopf drücken, der die großen Doppel-Falttüren mit einem zweifachen, lauten Klacken des Arretiermechanismus öffnete.
Ein paar Jahre später fuhr ich die mittlerweile orangefarbene U-Bahn, um mich im ersten Waggon unmittelbar an die Scheibe hinter dem Fahrer zu stellen, in der Absicht, die vielen bunten Knöpfe des Fahrerstandes abzumalen. Ich baute mir aus zwei Schuhkartons, die ich mit weißem Papier beklebte und bunt bemalte, den Führerstand eins-zu-eins nach und machte mir einen Spaß daraus, selbst den U-Bahn-Fahrer zu mimen. Ein kleiner Papphebel, befestigt mit Musterbeutelklammern diente als Fahrthebel. Die Haltestellen – die damals in den Zügen noch vom Kassettenband kamen – konnte ich dank des Fahrplanbuches in und auswendig aufsagen.
Auf der weiterführenden Schule wurde die U-Bahn zum täglichen Verkehrsmittel. Gar nicht so einfach war es, sich mit seinem Rucksack in den manchmal vollen Zügen zu bewegen. Umso schöner war es, wenn man einen Platz auf den gemütlichen Lederbänken ergattert hatte, besonders im Winter, wenn man dicht an den kräftigen Heizungselementen sitzen konnte. Waren in der Unterstufe noch die Stangen als Kletter- und Turnherausforderung interessant, brachte die U-Bahn zur Mittelstufenzeit ganz andere soziale Komponenten mit sich. Jetzt wurden Hausaufgaben abgeschrieben oder die ersten Gespräche über das andere Geschlecht geführt. Trotzig wurde in der Bahn geflezt, die Schuhe auf der gegenüberliegenden Bank geparkt, was so manchen Erwachsenen in den Wahnsinn getrieben hat. Und dann noch das Lichtschrankenbrechen an den Stationen, um Schulkollegen, die unterwegs abgehängt wurden, dann doch noch den Einstieg zu ermöglichen, was die Fahrer wiederum zur Weißglut trieb.
Bis zum Ende der Mittelstufe hat mich fast ausschließlich der sogenannte „U2“-Wagentyp begleitet. Dann führte die Verkehrsgesellschaft Frankfurt schrittweise die Bahnen des „U4“-Typs auf der sogenannten A-Strecke mit den U-Bahn-Linien der Linien U1, U2, U3 (und heute U8) ein. Die altgedienten „U2“-Waggons fuhren dann auf der sogenannten C-Strecke weiter.
Und die Wehmut packt mich erneut, als meine Reminiszenz vom Fahrtwind des passierenden U-Bahn-Zuges unterbrochen wird. Die rot-weiß-rote Lackierung schießt an mir vorbei und erinnert mich in blauen Lettern an jeder Tür daran, wie sie zu öffnen waren („Tür öffnen. Bitte Knopf drücken.“). Das dunkelblaue Logo der Stadtwerke mit den zwei in sich verkehrten Blitzen zischt am inneren Auge vorbei bis nur noch das freundliche Gesicht des Zughecks zu sehen ist, das mit dem ausgestreckten runden Rückspiegel ein letztes Mal winkt und „Au revoir“ sagt. Und ich weiß, dass mit dem Ausflotten dieses Wagentyps ein Stück meiner Frankfurter Kindheit das allerletzte Mal die Schienen Frankfurts entlang gepoltert ist.