Audiotext zum Nach- und Mitlesen:

(Urbanes Rauschen ist hörbar, ein Sprecher liest einzelne Begriffe aus der aktuellen Tarifpolitik vor, diverse Störgeräusche und hektische Musik sind zu hören)

„Heute ist also der Tag an dem die @spdbt sich davon verabschiedet eine Arbeiterpartei zu sein und zur Lobbypartei wird #Tarifeinheitsgesetz“ (@SKhaksari — Twitteruser)

„Eigentlich müssten jetzt alle streiken bis das mit dem #tarifeinheitsgesetz wieder zurückgenommen wird.“ (Twitteruser @RealDeuterium)

„Wenn das Tarifeinheitsgesetz vom BundesVerfG kassiert wird, tritt Frau Nahles dann zurück?“ (Twitteruser @buergerlobby [Anmerkung des Kommentierenden: Twitterfeed mittlerweile gelöscht])

„1961: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten. 2015: Niemand hat die Absicht, dass Streikrecht einzuschränken #Tarifeinheitsgesetz(Twitteruser: @BestSinceDay1cf)

(Geräuschkulisse reißt ab: Ende des Einleitungsfeature)

Heute, an diesem 22. Mai hat der Deutsche Bundestag dem Gesetzesentwurf zum Tarifeinheitsgesetz zugestimmt. Die Große Koalition will damit den Einfluss kleiner, durchsetzungsstarker Spartengewerkschaften eindämmen. Streiks in kurzer Frequenz, wie zuletzt bei den Lokführern oder Piloten mit erheblichen Einschränkungen für unser öffentliches Leben sollen erschwert werden.

Mit einer Zweidrittelmehrheit haben unsere Volksvertreter ein Gesetz verabschiedet, das bereits jetzt im Verdacht steht, verfassungswidrig zu sein. Diese Vermutung fußen Verfassungsrechtler im Grundgesetz. Dort heißt es in Artikel 9, Absatz 3, Zitat:

„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“

Die Juristen sehen also einen Widerspruch zwischen dem Grundgesetz und dem jetzt angenommenen Gesetzesentwurf zur Tarifeinheit. Nicht aber die Befürworter dieses Gesetzes, also die Mehrheit unserer Bundestagsabgeordneten. 444 stimmten für den Gesetzesentwurf, den Arbeitsministerin Andrea Nahles von der SPD eingebracht hat und das ganze so sieht, Zitat Nahles:

„Dass einige Spartengewerkschaften für ihre Partikularinteressen vitale Funktionen unseres gesamten Landes lahmlegen, ist nicht in Ordnung.“

Der frühere Innenminister und jetzt Anwalt für die Spartengewerkschaft Vereinigung Cockpit, Gerhart Baum hält dagegen und erkennt eine eindeutige Verfassungswidrigkeit. Im Deutschlandfunk-Interview verwies er auf den Umstand, dass mit dem Gesetz letztlich eine Mehrheit entscheide und somit eine Minderheit ausschlösse. Schließlich könne die Minderheit ja gar keinen Arbeitskampf mehr führen. Auch die Opposition sieht das so: gleichermaßen die Grünen und die Linken sehen in diesem Gesetzesentwurf einen Widerspruch zu unserer Verfassung. Dr. Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzender der Grünen, warf Ministerin Nahles vor der Abstimmung in der Plenarsitzung des Bundestages vor, dass sie sehr wohl das Streikrecht und somit die Koalitionsfreiheit einschränken wolle. Und dies stehe ja bekanntlich im Widerspruch zu eben genannten Art. 9, Absatz 3 des Grundgesetzes.

Nun ist die Tarifeinheit in aller Munde. Nicht zuletzt, weil wir Deutschen alle in den letzten Tagen unmittelbar mit dieser Materie konfrontiert wurden. Der Streik der Lokführergewerkschaft GDL hat uns alle eingeschränkt, war für uns alle äußerst unbequem. Aber bei aller Empörung und Emotionalität, das soll Streik auch nun mal sein. Ein Arbeitskampf und die damit verbundenen Auswirkungen sind schließlich die Ultima Ratio in einer Tarifauseinandersetzung. Sie tritt dann in Kraft, wenn die Verhandlungen, also der Dialog zweier Tarifpartner gescheitert ist.

Und für dieses Recht haben wir Deutschen kämpfen müssen. Denn vergessen wir nicht, in der Zeit der Nationalsozialisten gab es dieses Grundrecht nicht. Der Staat hat in dieser Epoche die Löhne diktiert. Dass wir heute in einer sozialen Marktwirtschaft leben, in der die Arbeitnehmer Druckmittel haben, um sich gegen soziale Ungerechtigkeiten zu erheben, ist ein hohes Gut. Ein genauso hohes Gut, wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde oder aber auch wie die Meinungs- oder Religionsfreiheit. Die Tarifpluralität – die diversen Meinungsforschungsumfragen nach übrigens die Mehrheit der Deutschen bevorzugt – ist ebenfalls ein Grundrecht. Und mit diesem Gesetzentwurf wird definitiv an der Tarifpluralität gerüttelt.

Übrigens wird an noch einem Grundrecht gesägt. Und das steht im Zusammenhang mit dem Datenschutz. Denn wie will man eigentlich ermitteln, welche Gewerkschaft die Mehrheit in einem Betrieb vertritt und somit in der Folge eventuell für einen Arbeitskampf legitimiert ist? Müssen sich die Mitglieder öffentlich bekennen?

Es liegt wohl an der Komplexität unserer Zeit, dass mal wieder ein anderes Staatsorgan zur finalen Entscheidungsfindung befragt werden muss, nämlich das Bundesverfassungsgericht. Es wird sich damit auseinanderzusetzen haben, was in dieser Causa der Großen Koalition nicht gelang: das Abwägen zwischen Grundrechten und Gesetzesentwurf. Übrigens: so wirkliche Verfassungstreue legt unser Bundestag nicht mehr an den Tag, kassierte doch Karlsruhe so manchen Gesetzesentwurf der jüngeren Vergangenheit nachträglich ein, man denke nur an die Vorratsdatenspeicherung oder die Erbschaftssteuer.

Anders gesprochen, noch einmal mit den Worten vom Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Dr. Anton Hofreiter:

„Dieses Gesetz ist anti-solidarisch, es beschneidet das Streikrecht und es ist wahrscheinlich verfassungswidrig.“

Ob verfassungswidrig oder nicht, verstörend ist dieser Gesetzentwurf alle mal. Zumindest aus einer sozialdemokratischen Perspektive. Denn er bricht mit den damit verbundenen Werten. Als Arbeitsergebnis einer sozialdemokratischen Partei, als Arbeitsergebnis von SPD-Ministerin Andrea Nahles, steht dieser Gesetzentwurf im Widerspruch zu über 150 Jahren sozialdemokratischer Parteiwerte. Die SPD, sie stand einst für soziale Gerechtigkeit, für Grund- und Arbeitnehmerrechte, für die Arbeiterklasse. Heute – mit diesem Gesetz – säht sie Zwietracht unter den Gewerkschaften. Denn das wird die Konsequenz aus diesem Gesetz sein, werden die Gewerkschaften untereinander versuchen, sich gegenseitig zu schwächen, um die eigene Position möglichst stark zu gestalten. Das Verhältnis unter den Genossen und Gewerkschaften wird also de-solidarisiert, ergo Konflikte angeheizt.

Noch etwas hat die SPD aber heute gezeigt. Sie hat gezeigt, dass sie als Koalitionspartner der schwarz-roten Regierung dem Respekt dieser Vereinbarung erlegen ist. Dem Respekt gegenüber einer geschlossenen Regierungslinie. Die SPD-Abgeordneten haben heute dazu beigetragen, dass das Parlament deutlich gezeigt hat, dass es nicht mehr willig ist, als Parlament diese Regierung zu kontrollieren, sondern die Regierung unlängst das Parlament. Und das ist demokratiefeindlich; es bleibt eben die Crux einer jeden großen Koalition.

Bleibt nur der SPD-Bundestagsabgeordneten Kirsten Lühmann zu ihrer einzigen mutigen Gegenstimme, also Nein-Stimme zu diesem Gesetz zu gratulieren. Und selbige mit Verlaub war nicht ganz uneigennützig, ist sie doch stellvertretende Bundesvorsitzende des Beamtenbundes.

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die großen Leitwerte der SPD. Welche dieser drei Leitwerte heute missverstanden wurden, bleibt in der Interpretation eines jeden einzelnen.

 

Mitwirkung:

Feature-Stimme, männlich (liest zwei Twitterfeeds): Micha Spannaus

Feature-Stimme, weiblich (liest zwei Twitterfeeds): Gabriela Schmidt

Beiden herzlichen Dank für Ihre Hilfe!