Schon früh in der menschlichen Evolution kam dem Pferd ein großer Stellenwert zu. Die ältesten noch erhaltenen Malereien von Pferden sollen sich in der Grotte Chauvet nahe Vallon-Pont-d’Arc in Südfrankreich finden. Die Abbildungen sollen etwa 30.000 Jahre alt sein.

In der Mythologie ist das Pferd omnipräsent, symbolisiert es doch Kraft, Jugend, Intelligenz, Stärke und Freiheit. Helios lenkte einen von feuersprühenden Rossen gezogenen Wagen, Poseidon als Meeresgott umgab sich gerne mit dem Pferd als Landtier, der Zentaur verkörpert noch heute die Symbiose von Pferd und Mensch.

Auch im Schachspiel schafft das Pferd einzigartiges: der Rösselsprung erlaubt es nur dem Springer andere Figuren zu überspringen. Dabei steht das Pferd gerne in der Mitte, schließlich heißt es nicht umsonst: „Ein Springer am Rand bringt Kummer und Schand.“

Auch in der klassischen Musik ist das Pferd als Motiv häufig zu finden. Es war ja schließlich auch auf den Straßen und Wegen das Fortbewegungsmittel der Wahl. Damals. Denn nur in der modernen Musik findet man das Pferd nicht mehr allzu oft. Bürger:innen aus Frankfurt und Umgebung werden jetzt zurecht ein Veto erheben. „Des Pferd? Des spielt doch widder an der Hauptwach‘“, hört man auch Herrschaften älteren Semesters frohlocken.

Und auch ich bin dieser Kunstgestalt unter höchster Bewunderung schon mehrfach an diversen Orten im Rhein-Main-Gebiet begegnet. Alles, was das Pferd zum Musizieren braucht, hat es in einer modernen, lilafarbenen Rolltasche, deren Inhalt auf den ersten Blick der Auslage eines Antikhändlers entsprechen könnte. Diverse runde Aluminiumbleche, ein mit Paketband zusammengehaltener Emaille-Topf, Deckel, Ständer und kleine Trommeln.

"Wenn der Pferdekopf wild auf- und abwippt, dann entsteht ein Kunstwerk, eine Art akustische Oase, eine trieblastige Experimentalmusik, ein Stück Rote Flora in Frankfurt."

Das Pferd selbst sitzt auf einem alten, gelben mit Chiquita-Bananen versehenen Plastikeimer. Dazu trägt es meist schwarze Wanderschuhe, eine Bluejeans und ein unauffälliges und ausgewaschenes Oberteil. Sinnig, denn der Hingucker ist schließlich der braune, viel zu große Pferdekopf. Über der wackelig sitzenden Gummimaske zieren schwarz-rote Ohrschützer das anarchisch anmutende Gesamterscheinungsbild.

Das Pferd in Aktion: es entsteht ein anarchischer, musikalischer Kokon in Mitten der von Kapitalismus geprägten Einkaufsstraßen

Wenn das Pferd seine zwei Schlägel zuckt, durchfährt mich eine ungewohnte sensorische Euphorie. Die Klänge, die das Pferd nur mit den alten, teils rostigen Utensilien aus der lilafarbenen Rolltasche kredenzt, sind einzigartig und heben sich vom überlauten Gedudel der alle 100 Meter positionierten Drehorgel-, Akkordeon- und Panflötenspieler sehr deutlich ab. Shakespeare schrieb einst:

„Wenn Musik die Nahrung der Liebe ist, spielt weiter; gebt mir im Übermaß davon, damit das Verlangen am Überfluß erkranke und so sterbe.“

Das Pferd fände diese Assoziation von sich zu einem alten britischen Lyriker mit Sicherheit ebenso bemerkenswert unpassend, wie der Fakt, dass während der Performance des Pferdes hauptsächlich Banker in schwarzen, gestriegelten Anzügen ihre silberfunkelnden Euromünzen in den alten weißen und mit „Danke“-Aufklebern verzierten Eimer werfen.

Das Pferd schafft weit mehr als einen Klangteppich. Wenn die flinken Hufe, äh, pardon, Hände die Brachialinstrumente bespielen, wenn die Füße auf diversen Blechscheiben die Klangdauer regulieren und wenn der Pferdekopf wild auf- und abwippt, dann entsteht ein Kunstwerk, eine Art akustische Oase, eine trieblastige Experimentalmusik, ein Stück Rote Flora in Frankfurt. Für einen Moment besetzt das beat-affine Tier ein Stück Einkaufsstraße und lenkt vom Hochglanzkapitalismus ab, der sich in den blitzeblankgeputzten Stores rund herum türmt.

Bitte akzeptieren Sie YouTube-Cookies, um dieses Video sehen zu können. Wenn Sie dies akzeptieren, sehen Sie Videomaterial von YouTube, einem Drittdienstleister.

YouTube Datenschutzhinweise

Wenn Sie dies akzeptieren, wird Ihre Einstellung gesichert und die Website neu geladen.


Eine Klangoase auf der Frankfurter Hauptwache. Kurzer Ausschnitt der Performance des Pferdes.

Während ich dank Coronavirus-Krise zu Hause sitze, denke ich ganz oft an das Pferd. Immer wenn ich den Einhufer spielen sah, blieb ich stehen, machte ein Foto, lauschte den Klängen, schloss die Augen und warf anschließend eine Zweieuromünze in den Dankeeimer.

Jetzt denke ich darüber nach, wer sich hinter dieser Maske verbirgt, was das Pferd in Zeiten der leeren Einkaufszeilen eigentlich so macht, ob Pferde überhaupt an COVID-19 erkranken können und ob es jetzt Balkonkonzerte für seine Nachbarn spielt.

Egal wo Du gerade bist, mein galoppierender Held der Beats: ich denke an Dich! Altes Haus, Verzeihung, altes Pferd: lass Deinen Paypal-Account rüberwachsen. Ich schmeiß die gewohnten wöchentlichen Euromünzen rein und versuche das, was Du aus dem Fell schüttelst, auf meinem Kochtopf zu Hause nachzuklöppeln.