Das Glück einer Biennale ist, dass man alle zwei Jahre Kunst genießen darf. Das Pech einer Biennale ist, dass man zwei Jahre warten muss, bis man wieder Kunst genießen darf. Nur was passiert, wenn man zwei Jahre geduldig gewartet hat und am Tag des Veranstaltungsbeginns erfährt, dass schon wieder alles vorbei ist, bevor es eigentlich richtig begonnen hat?

Bis um genau 12:24 Uhr an diesem Donnerstag war meine Welt noch heile. Ich stehe im großen lichtdurchfluteten Vestibulo des Instituto Cervantes, das auch 2020 als Festivalzentrum der biennalen Lichtkunstausstellung Luminale dient. Oder besser gesagt, dienen sollte. Denn genau in dem Moment, als ich mein allererstes Kunstwerk „The Cow“ als Teil der Installation „Der Italiener“ von Bernardí Roig betrachte, kommt ein netter Gentleman vom Empfang des Instituts auf mich zu und sagt:

„Es tut mir leid. Ich habe es gerade per E-Mail erfahren. Die Luminale ist abgesagt.“

Rückblende auf den Vorabend. Als ich das prall gefüllte schwarz-weiße Festivalprogramm in den Händen halte, komme ich ins Schwitzen. Seite für Seite lese ich akribisch durch, mache mir Notizen und überlege, auf welche Werke ich am Ehesten verzichten könnte. Vier Tage sind für die Luminale einfach zu kurz. Sowohl mengen- als auch flächenmäßig ist diese Biennale für Lichtkunst mittlerweile so groß gewachsen, dass der Betrachter gar keine Chance mehr hat, alle Kunstwerke sehen zu können. Frust und Vorfreude mischen sich gleichermaßen in mir. Und im Affekt fluche ich vor mich hin: „Warum zum Heller ist dieses Mal das Programm und die Karte getrennt?“ Das sollte wohl das kleinere der Probleme werden.

Das Luminale-Programm und die Standortkarte sind dieses Jahr getrennt.

Zurück ins Festivalzentrum. Als ich die Worte „Die Luminale ist abgesagt“ höre, durchfährt mich ein tiefer Schmerz. Ich fühle mich zurückerinnert in die Kinderzeit. An den plötzlichen Schmerz, wenn einem ein geliebtes Spielzeug aus den Händen gerissen wurde und dieser plötzliche Schock alles überschreibt. Abgesagt. Wochenlang schon hatte ich mich auf die Luminale gefreut, meinen Fotoapparat zurechtgerückt, das Stativ gepflegt und Ideen für Bilder gesammelt. Abgesagt.

Nun ist es so, dass die volatile Lage rund um die SARS-CoV2-Erkrankung, also die Coronavirus-Pandemie besondere Maßnahmen erfordert. Das ist mir tief in meiner Ratio bewusst. Ich vertraue auf die Wissenschaftler, halte die Maßnahmen für gerechtfertigt und sehe die Schutzmaßnahmen im Sinne von immungeschwächten Menschen für absolut übergeordnet an.

"Aufgrund der aktuellen Auflagen der Gesundheitsbehörden, Großveranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern zu untersagen, hat sich die Messe Frankfurt als Veranstalterin der Luminale kurzfristig entschieden, das Lichtfestival abzusagen. "

Pressetext auf der Luminale-Website

Und doch fühlt es sich falsch an. Emotional falsch. Ist das egostisch? Möglich. Aber da ist eben auch meine Seele und fühlt einen starken Verlust. Aber nicht in erster Linie, weil meine Befriedigung nach Lichtkunst nicht mehr gedeckt ist. Nein, das Gefühl ist gemeinschaftlicher Natur. Eine starke Solidarität steigt in mir auf. Was geschieht jetzt mit den Arbeiten der Künstler*innen? Sind jetzt die unzähligen Arbeitsstunden in Konzeption, Entwicklung und Co. umsonst geleistet? Wird das Festival nachgeholt? Wird Aktionismus auf dem Rücken der Künstler*innen ausgetragen?

Zurück auf die Sachebene. Insofern das überhaupt geht. Warum störe ich mich so an dieser kurzfristigen Absage? Weil die Reißleine von Stadt und Messe Frankfurt — letztere als Veranstalter — so kurzfristig gezogen wurde? Durchaus. Die volatile Lage hätte eine Absage schon Tage früher sehr realistisch gemacht. Sie wiegt insofern deshalb so schwer, weil die Luminale-Veranstalter am 11. März 2020 noch verlautbarten:

„Die Luminale findet statt, Besucher sollten eigenverantwortlich handeln und entscheiden, ob sie das Lichtfestival besuchen und generell im täglichen Leben die Empfehlungen der Gesundheitsbehörden umsetzen.“

Die Luminale machte sich ungewollt und unabsichtlich zur uneinnehmbaren Bastion. Die Nachrichten suggerierten einem, dass die generelle und pauschale Absage von Massenveranstaltungen absolut realistisch und erwartbar schien. Nur die Luminale blieb noch. Als gemeinschaftliche Veranstaltung, bei der ein mögliches Infektionsrisiko so gering schien, dass man guten Gewissens losziehen und sich von der partiell unerträglichen Nachrichtenlage erholen konnte. Kultur als Moralstütze einer Stadtgesellschaft. Abgesagt.

„The Cow“ als Teil der Installation „Der Italiener“ von Bernardí Roig, unbearbeitetes Handyfoto

Eine Frau kommt auf mich zu. Sie gehört zum Veranstalterteam und hat eine große Ausstrahlung. Trotz ihres einnehmenden Charismas wirken ihre Augen traurig und geknickt. Wir kommen ins Gespräch. Ich teile Ihr mit, wie traurig mich die Absage macht und dass ich solidarisch mit allen stehe, die so viel Arbeit investiert haben. Für einen kurzen Moment denke ich, dass sie eine Träne im Auge hat. Ihr Seufzen stützt die These. Ob die Luminale verschoben oder abgesagt sei, frage ich sie. „Abgesagt“, erhalte ich als Antwort. Sie spürt, dass das Wort mir genauso wehtut wie ihr. Sie lächelt. Vielleicht aus Mitleid. Vielleicht, um den eigenen Schmerz zu übertünchen.

Ich verlasse das Instituto Cervantes schockiert. Zuvor besorge ich mir noch „KUU“ (finnisch für die Faszination des Mondes), ein Lichtobjekt zum Mitnehmen. Der Designer Kai Linke hat das Objekt mit der frankfurter werkgemeinschaft e.V. (fwg) in limitierter Stückzahl geschaffen. Vielleicht ist dieser Mond das einzige, was mir bleibt von dieser Luminale. Und die Gewissheit, dass ich mit meiner Spende der fwg etwas Gutes getan habe.

Ein Clou, ähhh… „KUU“ ist mir schon mal sicher.

Und nun? Die Absage einfach hinnehmen? Akzeptieren? Brav zu Hause sitzen? Oder rebellisch werden? In den nächsten Tagen auf die Suche nach verbliebener und trotzdem betriebener Lichtkunstobjekte gehen und somit die Künstler würdigen? Oder sachlich und rational bleiben? Bleibt dieser als Prolog gedachte Blogeintrag auch gleichzeitig das Schlusswort? War das heute Start oder Ziel, Alpha oder Omega?

Ich bin ratlos. Und suche auch zu dieser Luminale die Be- oder Erleuchtung.

Ihr
Daniel R. Schmidt


Offizielle Pressemitteilung zur Luminale-Absage