Am 9. September letzten Jahres erschien ein US-amerikanischer Dokumentarfilm unter dem Titel „The Social Dilemma“ (deutscher Titel: „Das Dilemma mit den sozialen Medien“). Der auf der Streamingplattform Netflix veröffentlichte Streifen setzt sich kritisch mit den Folgen auseinander, die soziale Netzwerke auf die Gesellschaft haben. Dafür nehmen Ex-Entwickler*innen der Branchenplatzhirsche die Form von Protagonisten ein.

Gestern Abend schaute ich vor dem Zubettgehen noch „The Social Dilemma“ auf Netflix an, und heute früh fühle ich mich sonderbar ertappt. Denn mir wird bewusst, dass ich genau in die Falle tappe, die im Film als Schlüssel zum Erfolg der sozialen Medien betrachtet wird: Aufmerksamkeit. Der allmorgendliche Check nach Benachrichtungen ist genau das, was Facebook, Google, Instagram und Co. wollen. Dabei bespielen sie uralte menschliche Reize und nutzen die biochemischen Vorzüge des Neurotransmitters Dopamin.

In 89 Minuten Film lässt Dokumentar-Regisseur Jeff Orlowski ehemalige Mitarbeiter*innen in Top-Positionen bei den Tech-Unternehmen Google, Facebook, Twitter, Pinterest, Instagram, Firefox, Uber und anderen als Protagonisten zu Wort kommen. Umrahmt werden die Aussagen von einer geschauspielerten Dramatisierung, in dessen Mittelpunkt das mittlere Kind einer Familie, Ben, nicht nur von sozialen Netzwerken manipuliert wird, sondern zudem in eine tiefe Medienabhängigkeit gerät.
 

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Den roten Faden des Films bieten die Aussagen der unterschiedlichen Tech-Charaktere, die eine Beziehung von teils eigens geschaffenen Funktionen der sozialen Netzwerke, wie beispielsweise des „Like-Buttons“ (Justin Rosenstein), hin zu den gesellschaftlichen Folgen führen, die Social Media auf unser tägliches Leben haben. So wird als eine These des Films angeführt, dass soziale Netzwerke gezielt Einfluss auf unser elementares Verhalten über die Gefühlslage ausüben, ohne dass die einzelnen Benutzer sich dessen überhaupt bewusst seien (Prof. em. Shoshana Zuboff, PhD). Dabei werden psychologische Manipulationstechniken aufgeführt, die Nutzer von sozialen Medien gezielt zu einer intensiven Nutzung verführen sollen. Diese Nutzungssteigerung führt wiederum zu einer größeren Sammlung von Daten und in der Folge zu einer genaueren Vorhersagbarkeit des entsprechenden Users, was wiederum die eigentliche Wertschöpfung vorantreibt: diese Daten und diese Vorhersagbarkeit im Rahmen des Anzeigenverkaufes an Unternehmen abzusetzen.

"Facebook discovered that they were able to effect real world behaviour and emotions without ever triggering the users' awareness. They are completely clueless!"

Prof. em. Shoshana Zuboff, PhD in 'The Social Dilemma'

Warum mit den sozialen Netzwerken eine neue Form von Propaganda entstanden ist: „Fake News“

Bereits bevor der Film das Phänomen der „Fake News“ anschneidet, wird klar, warum die Geschäftsmodelle von Google, Facebook und Co. kritisch beleuchtet werden müssen. Als Anwendungsbeispiel wird die unterschiedliche Ergebnisdarstellung des Google-Suchfeldes angeführt, das je nach Ort oder persönlichen Präferenzen des Nutzers unterschiedliche Ergebnisse zur Eingabe „climate change is“ ausspielt.

Suchabfrage "Climate change is" bei Google, Screenshot aus der Dokumentation "The Social Dilemma", (c) NETFLIX 2020
Suchabfrage „Climate change is“ bei Google, Zu welchen Ergebnissen kommen Sie? — Screenshot aus der Dokumentation „The Social Dilemma“, (c) NETFLIX 2020

Mit dem kontinuierlichen Erfassen der Nutzerpräferenzen und steigenden Genauigkeit der digitalen Vorhersagbarkeit schränkt sich zwangsläufig die eigene digitale Welt immer weiter ein. Dies ist Teil des Geschäftsmodells. Für den Nutzer heißt dies: Filterblasen entstehen. Und diese Filterblasen werden unter der Prämisse eigener Glaubenssätze geprägt, die durch unser Nutzungsverhalten entstehen. User werden so zunehmend in ihrer eigenen Weltansicht bestärkt, da die angebotenen Inhalte diesen Sichten entsprechen. Ein Perspektivwechsel verschwindet. Im Film wird unterstrichen, dass dieses Phänomen nicht unabsichtigt auftrete, sondern gewollte Funktionalität sei (Tristan Harris).

In der Konsequenz führe genau dies zu bedeutsamen gesellschaftspolitischen Änderungen in der Welt (Tim Kendall), die dafür sorgten, dass sich beispielsweise Fake News sechsmal so schnell verbreiteten wie korrekt wiedergegebene Nachrichten (Tristan Harris). Durch den Verbleib in Filterblasen polarisierten sich Gesellschaften in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Die Leichtigkeit, Bevölkerungen über Facebook in politischer Tiefe zu manipulieren, sei noch nie so ausgeprägt gewesen (Roger McNamee).

"You get rewarded by hearts, likes, thumbs up. And we conflate that with value and we conflate that with truth."

Chamath Palihapitiya in 'The Social Dilemma'

Social-Media-Dilemma oder Social-Media-Dystopie?

Die Frage, die sich beim Betrachten des Films „The Social Dilemma“ als erstes aufdrängt, ist, ob die angeführten Fakten denn alle schlüssig und valide sind. Verdient der Film das Prädikat einer Dokumentation? Sowohl die Süddeutsche Zeitung („Social Media bedroht die Menschheit – wirklich?“ von Simon Hurtz) als auch „Der Tagesspiegel“ („Warum diese Doku Teil des Problems ist“ von Jonas Bickelmann) bezweifeln dies und kritisieren die Verdichtung und die Ungenauigkeit der aufgezeigten Fakten. Als Beispiel für die fehlende Kontextualisierung wird die auf Benutzung von Smartphones zurückgeführte Statistik der Suizidrate von Teenagern aufgeführt (Simon Hurtz, SZ), die weitere Einflussfaktoren wie beispielsweise die Verschuldung von US-amerikanischen Haushalten völlig außen vor lässt.

Ein weiteres Argument spricht gegen eine Einordnung des Films als Dokumentation. Mit der geschauspielerten Dramaturgisierung schafft Regisseur Orlowski zwar eine bildliche und in sich schlüssige Anwendung der verbalisierten Kritik der Protagonisten, sie bildet aber nicht – wie auch nicht die Darstellung der Vorsprechenden – alle Aspekte des Umgangs mit den sozialen Netzwerken ab. Insbesondere die Schnelligkeit, die Konnektivität, den Abbau von Kommunikationsbarrieren und die Möglichkeit, sozialen, aktivistischen und karitativen Projekten eine Stimme zu verleihen, bildet der Film genauso wenig ab, wie die Chance, auf Crowdsourcing zuzugreifen oder neue Wege, die eigene und die Kreativität anderer zu erhöhen.

Als moralisch fragwürdig dürfte auch die Doppelmoral der Protagonisten gelten, die allesamt in ihren Zeiten bei den entsprechenden Tech-Unternehmen ein nicht unerhebliches Salär haben einstreichen dürfen. Es bleiben große Zweifel, ob Ihnen nicht damals bereits bewusst war, dass es sich bei denen von ihnen geschaffenen Funktionen um manipulativen Mechanismen handelt. Insofern drängt sich beim Zusehen der Gedanke auf, dass aus einer wirtschaftlichen gesicherten Position die Selbstkritik als gewisser Ablasshandel verstanden werden kann.

Der Film zeigt weniger ein Dilemma mit der notwendigen multiperspektivischen Auseinandersetzung auf, vielmehr zeichnet er eine Social-Media-Dystopie. Und letzteres ist notwendig, denn nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland, wird der sogenannte „Überwachungskapitalismus“ mit großer Sorge gesehen. Philosoph und 3sat-Moderator Gert Scobel untermauert in einem fünfundzwanzigminütigen Monolog, warum die Kernaussage des Films wichtig ist:
 

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"What I want people to know is that everything they are doing online is being watched, is being tracked, every single action you take is carefully monitored and recorded."

Jeff Seibert in 'The Social Dilemma'

Anschauen oder nicht? Handeln oder nicht?

Trotz der Kritik am Terminus Dokumentation ist dieser Film dennoch ein Werk, das man gesehen haben sollte. Es gibt wichtige Impulse, nicht nur sein eigenes Nutzungsverhalten der sozialen Medien im Alltag zu reflektieren, sondern auch darüber nachzudenken, welchen Einfluss soziale Netzwerke auf allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen haben. Zudem schaffen die insgesamt unterhaltsamen und dennoch mahnenden 89 Minuten ein Bewusstsein darüber, welche Rolle der User selbst in der Nutzung von Google, Facebook und Co. einnimmt: Er wird zum Datengut reduziert, permanent überwacht und gezielt anhand seiner Vorausahnbarkeit manipuliert und bespielt. Wenn überhaupt von Gegenleistung gesprochen werden kann, erhält er Vernetzung und Bequemlichkeit.

Fraglich ist jedoch, inwieweit die aufrüttelnden und warnenden Erkenntnisse des Films das kommunikative Handeln des Einzelnen beeinflussen. Die digitalen Platzhirsche sind Quasi-Monopolisten und viele Personen, Organisationen, Händler und Unternehmen auf die Nutzung und Darstellung in diesen Services angewiesen. Wo stecken für Individuen hier die Hebel? In der eigenen Nutzung? In politischen Forderungen nach Zerschlagung oder Reglementierung der marktbeherrschenden Unternehmen?

Immerhin einen kleinen Lösungsansatz liefert der Film im Abspann mit (Quelle der Liste ist die englischsprachige Wikipedia, eigene Übersetzung):

  • Stellen Sie Benachrichtigungen ab oder reduzieren Sie zumindest die Menge der Benachrichtigungen, die Sie erhalten.
  • Deinstallieren Sie Social-Media- und Nachrichten-Apps, die sich als Zeitverschwendung herauskristallisiert haben.
  • Benutzen Sie eine Suchmaschine, die keine Suchhistorie speichert, wie Qwant.
  • Benutzer Sie Browser-Erweiterungen, die Empfehlungsmarketing blockieren.
  • Checken Sie die Fakten, bevor Sie Beiträge teilen, liken oder kommentieren; gerade wenn die Information auf Sie überraschend oder ungewöhnlich wirkt.
  • Benutzen Sie zum Einordnen verschiedene Informationsquellen mit unterschiedlichen Perspektiven; auf jeden Fall mit einer Perspektive, die Sie nicht teilen.
  • Geben Sie Smartphones nicht ohne weiteres an Kinder. Geben Sie Kindern keine Bildschirmzeit.
  • Akzeptieren Sie niemals empfohlene Videos auf YouTube, Facebook oder anderen sozialen Netzwerken.
  • Versuchen Sie unbedingz zu vermeiden, auf sogenannte „Clickbait“-Links zu klicken.
  • Verbannen Sie nach einer gewissen Zeit Smartphones aus dem Schlafzimmer.
  • Erlauben Sie Kindern keine Socia-Media-Nutzung vor der 9. Klasse.

Diesen Blogbeitrag habe ich in den Tag über in mehreren Kreativetappen geschrieben. Jetzt, um 19:43 Uhr am Samstagabend, bin ich mich ihm zufrieden. Intuitiv habe ich wieder mein Smartphone in der Hand und hoffe, dass eine Benachrichtigung, eine nette Nachricht oder ein paar Likes auf mich warten. Den ganzen Tag über habe ich immer wieder den Sperrbildschirm betrachtet und geprüft, ob etwas auf mich wartet. Es blieb ruhig. Insofern bin ich jetzt froh, einen neuen Blogbeitrag geschrieben zu haben, warte aber immer noch auf den Dopaminkick einer Nachricht. Auch ich gehöre wohl zu den Süchtigen.

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