Audiotext zum Nach- und Mitlesen:

(O-Ton des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in seiner Rede zur Wiedervereinigung, 1990 ist zu hören)

„So erleben wir den heutigen Tag als Beschenkte. Die Geschichte hat es diesmal gut mit uns Deutschen gemeint. Umso mehr haben wir Grund zur gewissenhaften Selbstbesinnung.“

Als ich diese Worte hörte und mit großen Augen vor der Tagesschau saß, war ich gerade acht Jahre alt. Nicht alt genug, zu verstehen, was genau die Wiedervereinigung für einen Stellenwert besaß, aber sehr wohl alt genug, um zu verstehen, dass etwas Großes passiert sein musste.
Heute an diesem 03. Oktober 2015 feiern wir das 25. Mal den Tag der Deutschen Einheit. Mittlerweile weiß ich sehr wohl um das Geschenk eines vereinten Deutschlands, weiß, welche politische Glanzleistung es war, in einer historischen Chance zwei Nationen gewaltfrei zusammenzuführen und weiß durch Literatur, durch Aufklärung , durch Erfahrungsberichte, durch Gespräche und Nachfragen, in welchem Unrechtsstaat die Bürger der DDR gelebt und gelitten hatten.

25 Jahre geeintes Deutschland heißt, dass wir mehr als die Hälfte der Zeit, die wir Deutschen in Trennung verbracht haben, wieder zusammen leben. 41 Jahre haben die BRD und die DDR nebeneinander existiert und somit auch 41 Jahre Trennung und Isolation, 41 Jahre Disparität, 41 Jahre politisch inkompatible Systeme. Diese Zeit hat Spuren hinterlassen.

Deutschland ist heute wiedervereinigt und doch nicht ein wirkliches Ganzes. Gerade wir, die Generation, die bewusst die deutsche Wiedervereinigung erlebt hat, wir tun uns zumeist schwer, von Begrifflichkeiten wie „Wessis“ und „Ossis“ Abstand zu nehmen. Wir denken nicht nur geografisch noch zumeist in Ost- und West, sondern auch historisch und verwenden den Term „alte“ und „neue Bundesländer“.

Aber wieso ist das eigentlich so? Weil genau die Existenz in zwei antagonistischen Systemen Spuren in unseren Köpfen hinterlassen hat, die zum einen nur langsam verblassen und zum anderen bis heute wirtschaftlich und politisch eine De-Facto-Trennung herbeiführen. Das wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Gefälle zwischen Ost und West ist immens.

Beispiel: Im Jahre 2013, also 23 Jahre nach der Wiedervereinigung, war das westdeutsche Bruttoinlandsprodukt 8,12 Mal so hoch wie das Ostdeutsche (Quelle: Statista 2015). 2002 war der Wert übrigens gerade bei 7,67 Mal, also die Schere klafft weiter auseinander, als dass sie steter zusammenwachse.

Ein weiteres Beispiel dürfte der Migrationshintergrund von deutschen Bürgern darstellen. In Hessen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen stammt jeder Vierte aus einer Einwandererfamilie oder ist selbst eingewandert, in den ostdeutschen Flächenstaaten ist es nur jeder Zwanzigste (Quelle: Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung). Und so nebenbei bemerkt mag dieser Fakt eine Erklärung bieten, warum die selbst dedizierten „Asylkritiker“ im Osten Deutschlands besonders frequentiert sein mögen.

Deutschland war geschichtsbedingt durch seine Völker und Volksstämme noch nie ein gänzliches homogenes Land. Nichtsdestoweniger ist es heute ein großes Glück, dass wir nun unter einer Deutschen Nation vereint sind. Eine Nation, die noch viel zu tun hat, dichter zusammenzurücken, wirtschaftliche und politische Unterschiede zu überwinden und verschiedene regionale Mentalitäten verstehen zu lernen.

Deutschland steht vor großen Herausforderungen, nicht nur im internen Zusammenwachsen und dem weiteren Überwinden des Ost-West-Begriffs, sondern auch weltpolitisch. Mit der aktuellen Flüchtlingskrise, die die humanitäre Katastrophe unseres Jahrzehnts darstellt, sehen wir uns großen Herausforderungen konfrontiert. Und an denen können und werden wir wachsen. Als gesamtdeutsche Gesellschaft.

„Die Deutschen leben wieder in einem souveränen, freien und geeinten Land“,

das waren die Begrüßungsworte von Tagesschausprecher Werner Veigel am 3. Oktober 1990. Manchmal wäre es gut, wenn wir uns alle an diesen einen singulären Satz erinnerten. Und das nicht nur an diesem 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit.