Audiotext zum Nach- und Mitlesen:

Es sind Wochen, in denen wir Tag für Tag an ein dunkles Kapitel Deutscher Geschichte erinnert werden. Vor 70 Jahren befreiten alliierte Truppen nach und nach Deutsche Konzentrationslager. So läuft uns im hier und jetzt ein Schauer über den Rücken, wenn wir Ortsnamen wie Auschwitz, Buchenwald, Bergen-Belsen und Dachau hören und natürlich noch viele andere Orte des Nazi-Schreckens. Im Rahmen dieser Jahrestage lesen wir dazu in der Zeitung, sehen Augenzeugenberichte im Fernsehen, besuchen Gedenkfeiern.

So rücken die Deutschen Verbrechen des letzten Jahrhunderts für einen kurzen Moment wieder in das Bewusstsein von uns allen. Zumindest von denen, die hinhören. Die sich mit der deutschen Vergangenheit konfrontieren, sei es auch nur für die paar Minuten, die die Tagesschau im Fernsehen läuft.

Das Problem: die Zahl der Zeugen, der Betroffenen, der Opfer, der Menschen, die selbst unter einer KZ-Erfahrung litten und heute noch leiden. Sie nimmt ab. Aus natürlichen Gründen. Die Generation, von der wir peu-a-peu Abschied nehmen müssen, war die Kindergeneration in Nazideutschland.  Und mit jedem Tod dieser Generation verlieren wir ein Stück Erinnerung. Wir verlieren Zeitzeugen, die uns als Generation, die keine Berührung mehr mit Krieg und Unterdrückung, mit Vertreibung und Genozid erfahren hat, aufklären. Uns klar machen, an welchem Leid wir Deutschen Schuld tragen, uns klar machen, welche Opfer nötig waren, damit wir in unserer heutigen demokratischen Gesellschaft in Frieden leben können.

Warum das so wichtig ist, zeigte mir ein Besuch der Frankfurter Innenstadt. Auf der Einkaufsmeile „Zeil“ sind dort für sieben Monate blau-weiße Stoffbinden an Bäumen installiert. Sie tragen Nummern, teilweise auch Namen und erinnern an das KZ-Außenlager „Adlerwerke“. Ein Konzentrationslager unter dem Decknamen „Katzbach“, das im August 1944 mitten in Frankfurt eröffnet wurde und in dem 1.600 vormerklich polnische Gefangene durch Zwangsarbeit und menschen-unwürdige Bedingungen sowie Gewalt getötet wurden.

Es ist Samstag und zahllose Ströme von Passanten laufen über die Zeil. Alle in Hektik, alle mit Einkaufstüten bepackt, verrichten sie ihre Einkäufe. Eine Gruppe Anfangzwanziger bleibt vor einem mit einer solchen blau-weißen Binde markierten Baum stehen. Ich bekomme folgenden Dialog mit.

 „Was’n das?“ ruft der eine.

Keine Ahnung, vielleicht machen se den Baum platt“ sagt der andere.

Ein Mädchen liest vor: „KZ Außenlager Adlerwerke“.

Ein anderer fordert: „Nicht schon wieder Geschichte, lass losziehen“.

Sie ziehen los, lachen, flaxen, schwingen gut gelaunt ihre Primark-Papiertüten mit zahllosen trendigen zwei Euro T-Shirts.

Aufklärung und Erinnerung, so denke ich, sind notwendiger denn je.