In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 fand der Auftakt zu den sogenannten Novemberprogromen statt. Es war die Initialzündung zu einer der schlimmsten Verbrechen, die die Menschheit je gesehen hat: dem Holocaust, der Shoah. Traditionell werden an diesen beiden Tagen die Deutschland verlegten „Stolpersteine“ von sogenannten „Putzpaten“ gepflegt und die Erinnerung an die unzähligen Ermordeten wieder aufgefrischt. Doch was steckt eigentlich hinter diesen Steinen? Ich habe eine Webreportage erstellt.

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Text zum Film:

Kein Mensch ist froh, wenn er stolpert. In diesem Fall mache ich eine Ausnahme. Denn hier bin ich ganz besonders froh, dass ich „gestolpert“ bin. Warum? Ich bin in der Frankfurter Neumannstraße und hier liegt einer der sogenannten „Stolpersteine“ Frankfurts. Und diese „Stolpersteine“ erinnern an Opfer des Nationalsozialismus und am Tag dieser Aufnahme ist es genau der 10. November und Sie wissen, meine Damen und Herren, vom 9. bis 10. November 1938: die Initialzündung für die schlimmsten Verbrechen, die ein Mensch sich ausmalen kann – die Reichspogromnacht im damaligen Nazideutschland.

Anlässlich dieses Tages habe ich erfahren, dass „Putzpaten“ gesucht werden für die „Stolpersteine“. Da habe ich mich gemeldet, nicht nur für diesen Dreh natürlich, sondern um generell diese Initiative und diese Aktion zu unterstützen, aber das hat mich neugierig gemacht. Ich würde gerne mehr erfahren… was hat es eigentlich auf sich? Welche Geschichten stecken hinter den „Stolpersteinen“ Frankfurts? Da versuche ich im Rahmen dieser Putzaktion einen kleinen Einblick zu bekommen.

[Vorspann]

Frisch ans Werk! Für meine gerade übernommene Patenschaft habe ich mir ein Gebiet vorgenommen, dass sich über die Stadtteile Eschersheim und Dornbusch erstreckt. In diesem Areal liegen 14 „Stolpersteine“, die jetzt ordentlich gepflegt werden sollen. Ich weiß, dass die kleinen kubischen Gedenksteine aus einem Betonwürfel bestehen, auf den eine Messingtafel mit der Inschrift eingebracht ist. Und aus dem Chemieunterricht erinnere ich mich dunkel, dass Messing als Legierung aus Kupfer und Zinn gerne mal oxidiert, auf gut deutsch „anläuft“. Und das sorgt dafür, dass so manch Stein, den ich vorfinde, dringend eine Pflege braucht, damit Passanten überhaupt die Inschrift des Steins lesen können. An einem Stein bin ich sogar mehrfach vorbeigelaufen, weil er sich von seiner Umgebung gar nicht mehr abhob. Vorher habe ich mich natürlich schlau gemacht, wie ich die Steine überhaupt pflegen darf, ohne sie zu beschädigen. Ich greife zu Schwämmchen, die keine kratzigen Auflageflächen besitzen und verwende ein spezielles Reinigungsmittel für Metalloberflächen.

Und dann heißt es Putzen, Putzen, Putzen!

Natürlich lese ich beim Pflegen auch die Inschriften von den 14 „Stolpersteinen“, für die ich die „Putzpatenschaft“ übernommen habe. Hier zum Beispiel von Karl und Edith Beicht, die beide im Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurden. Aber bis auf die schlimmen Fakten, die auf den Steinen genannt sind, weiß ich noch nicht, welche Lebensgeschichten sich hinter den Menschen verbergen, denen „Stolpersteine“ gewidmet sind. Und ich weiß auch noch nicht viel mehr von den „Stolpersteinen“ in Frankfurt selbst.

Am nächsten Tag. Ich treffe mich mit einem Mann, der es wissen muss. Hartmut Schmidt ist der Vorsitzende der Initiative Stolpersteine Frankfurt e.V. und er nimmt mich mit einigen anderen Interessierten auf einen „Stolpersteine“-Spaziergang durch die Frankfurter Innenstadt. Aber bevor der Rundgang startet, muss ich natürlich fragen, wie die „Stolpersteine“ eigentlich nach Frankfurt gekommen sind.

„In Frankfurt wurden die ersten „Stolpersteine“ am 11. November 2003 verlegt. Die Idee kam von einer Gruppe… das war damals die „Bürgerinitiative Nordend“. So eine Bürgerinitiative, die eben gegen so einiges war. Gegen Stadtbahn und gegen Rassismus, und so weiter. Und eine aus dieser Bürgerinitiative hat in der Bahnzeitung, im ICE fahrend, den Hinweis auf diese „Stolpersteine“ gefunden. Und hat sich mit dem Künstler Gunter Demnig in Verbindung gesetzt und so kam die erste Verlegung in Frankfurt zustande.“

(Hartmut Schmidt)

Unser Rundgang beginnt an der Gedenkstätte Neuer Börneplatz und führt uns in das Areal rund um die Rechneigrabenstraße im Fischerfeldviertel. Ein geschichtsträchtiges Viertel, im dem sich früher viele jüdische Institutionen befanden, wie z.B. das Israelitische Hospital, die orthodoxe Synagoge und das originäre Philanthropin. Hartmut Schmidt weiß viele schockierende und tief berührende Lebensgeschichten zu erzählen, unter anderem etwa von der Räumung des jüdischen Pflegeheimes im August und September 1942. 166 Juden wurden von dort in Konzentrationslager deportiert. Schmidt berichtet, dass einer der wenigen Überlebenden, Ferdinand Levi, sich erinnere, dass noch während des Abtransports gierige Nachbarn aufgetaucht seien, die um Möbelstücke schacherten und konstertierten:

„Ihr kommt ja doch alle fort und dürft nichts mitnehmen.“

Ich bin von den Überlieferungen und Erinnerungen gleichzeitig gepackt und ob der tiefen Menschenverachtung angewidert. Zu fast allen „Stolpersteinen“, die uns unterwegs begegnen, gibt es Geschichten. Blank geputzt werden sie übrigens gleich bei dieser Gelegenheit auch. Ich lerne, dass viele dieser Vita-Fragmente in einem Buch zusammengefasst sind, dass im Verlag „Brandes & Apsel“ erhältlich ist: „Stolpersteine in Frankfurt am Main — Zehn Rundgänge“. Bevor wir nach diesem aufschlussreichen Rundgang wieder auseinandergehen, erfahre ich noch, dass genau in zwei Tagen mehrere „Stolperstein“-Verlegungen in Frankfurt stattfinden sollen…

Über 62.000 „Stolpersteine“ liegen mittlerweile in 21 Ländern, heute kommen 24 Namen, 24 erinnerte Geschichten und 24 neue „Stolpersteine“ in ganz Frankfurt hinzu. Für meinen Besuch habe ich mir die letzten beiden „Stolperstein“-Verlegungen des Tages in der unmittelbaren Innenstadt ausgesucht. Am heutigen Carl-Theodor-Reiffensteinplatz vor Hausnummer 5 — früher war das die Reineckstraße 21 — werden heute gleich sechs „Stolpersteine“ vom Künstler Gunter Demnig neu verlegt. Mit den Steinen wird Familie Goldblatt gedacht. Die Mutter, Keile Klara Goldbach hatte insgesamt sechs Kinder, die bis auf den ältesten Sohn alle in Frankfurt geboren wurden. Während Sally und Helene in Auschwitz ermordert wurden, gelang Selma, Avraham und Pepi die Flucht nach Palästina. Für sie alle liegen also jetzt „Stolpersteine“ in der heutigen Frankfurter Innenstadt. Für die Verlegung sind extra Verwandte aus Israel und den Vereinigten Staaten angereist. Besonders bewegt mich der Moment, als Rabbiner Andrew Steiman alle Anwesenden bittet, sich an die Hand zu nehmen und die Namen der Vernichtungslager im Gebet aufzählt, in denen so viele Menschen aufgrund des Nazi-Rassenwahns ausgelöscht wurden.

„Majdanek!“
(Rabbiner Steiman singend)

Es bewegt mich, zu sehen, welche Befreiung es für die angereiste Familie ist, dass am alten Wohnort der Familie Goldblatt hier in Frankfurt, die Lebensgeschichte und der Schrecken, der dieser und unzähligen Familien durch die Nazigreueltaten widerfahren sind, visualisiert und somit ein Ort des Gedenkens geschaffen wurde. Ich habe einen Kloß im Hals. Auch bei der zweiten Verlegungszeremonie.

Zuvor habe ich jedoch Gelegenheit, den Künstler Gunter Demnig zu fragen, wie sehr ihn die Lebensgeschichten beim Verlegen der „Stolpersteine“ berühren:

„Na ja, jeder Text geht ja erstmal über meinen Rechner. Also ich kann sagen, jede Endkorrektur. Aber beim Verlegen ist es dann doch noch mal was anderes. Den Stein in der Hand zu haben, ist was anderes, als ihn im Rechner zu haben. Und ich meine… gut das Einsetzen selber kann ich natürlich im Dunkeln, aber es sind ja doch immer wieder andere Schicksale. Es ist immer wieder neu. Sind ja auch andere Menschen, die dazukommen, sind Angehörige, die dazukommen. Und es sind immer wieder Schicksale, wo man sich sagt: ‚Wie konnte so etwas passieren?‘“

(Gunter Demnig)

Auch bei Hermann und Ida Wronker fragt man sich, wie so etwas passieren konnte. Herman Wronker entstammte einer Kaufmannsfamilie und betrieb die eigene Warenhauskette „Wronker“. Nicht nur, dass er mit seinen Filialen viele Menschen in Brot und Lohn stellte, nein, er war auch ein großer Philanthrop und Mäzen. Er gründete unter anderem die reichsweit erste Wach- & Schließgesellschaft, war Mitbegründer der Union-Filmtheater AG, die heute unter der Abkürzung UFA bekannt ist, engagierte sich für die Sanierung der Frankfurter Altstadt und stiftete eine Lotterie mit wertvollen Preisen zur Wiedererrichtung des Eisernen Stegs. Am 20. Juni 1934 erfolgte durch die erzwungene „Arisierung“ die Übernahme von „Wronker“ durch die „Hansa AG“, bekannt als spätere „Hertie“ und heute Bestandteil von „Karstadt“. Die Flucht nach Paris im März 1939 verschaffte nur kurze Erleichterung, die Wronkers mussten weiter nach Sauray fliehen, wurden von dort aber bis nach Auschwitz verschleppt und ermordet. Eine Lebensgeschichte, in deren lokaler Aufarbeitung sich Frankfurt bislang sehr, sehr schwer tut. Hoffentlich tragen die beiden Stolpersteine für die Wronkers und ein bislang in Frankfurt einmaliger Stein für das Warenhaus „Hermann Wronker AG“ auf der Frankfurter Einkaufsstraße Zeil bei, dies zu ändern.

Meine Damen und Herren, ich hoffe, ich habe Sie ein bisschen neugierig gemacht auf „Stolpersteine“ hier in Frankfurt und an vielen anderen Orten in Deutschland und in ganz Europa. Wenn Sie nähere Informationen zu den „Stolpersteinen“ hier in Frankfurt haben möchten. Dann gehen Sie doch auf die Internetseite der Initiative dazu, www.stolpersteine-frankfurt.de.

Der Himmel weint zum Gedenken an diese furchtbare Nacht 1938 und auch ich möchte eine Rose niederlegen jetzt an dem Stein, den ich eingangs dieses Beitrages geputzt habe und in diesem Kontext möchte ich Sie bitten, mir persönlich einen Gefallen zu tun. Wann auch immer Sie an einem „Stolperstein“ vorbeikommen, — hier in Frankfurt oder irgendwo anders in der Republik — dann tun Sie mir den Gefallen und lesen Sie doch bitte die Inschrift einmal laut vor. Wenn Sie das nicht machen möchten, dann lesen Sie sie zumindest in sich gekehrt. Und auch ich mache das an diesem Stein in der Neumannstraße:

Hier wohnte Margarethe Gerlach,
geborene Tamm, Jahrgang 1883,
eingewiesen 1929 ‚Heilanstalt‘ Herborn,
1941 ‚Heilanstalt‘ Hadamar,
ermordet am 13. Februar 1941.

Und um dieses Gedenken nicht zu verlieren, falls auch Sie Interesse haben, die Initiative zu unterstützen: es werden noch „Putzpaten“ gesucht. Und auch ich habe noch einiges zu tun an diesem regnerischen Tag und mache mich auf zum nächsten „Stolperstein“. Tschüss!

[Abspann]