Die gewalttätigen Ausschreitungen während des G20-Gipfels in Hamburg haben deutschlandweit Entsetzen ausgelöst. Aber nicht nur die Intensität der Krawalle schockieren, sondern auch die begleitenden Tatbestände, die das Ansehen der deutschen Demokratie schwer angezählt haben. Fest steht, dass es nach der deutschen G20-Präsidentschaft keinerlei Sieger gab, sondern ausschließlich Verlierer.

Ein Kommentar von Daniel R. Schmidt — mit eingeschobenen Zitaten und Twitterfeeds als Denkanregung

 

Darf sich ein Journalist zu den Ereignissen rund um den G20-Gipfel in Hamburg äußern, auch wenn er nicht vor Ort war und die Geschehnisse nur aus der Distanz betrachten konnte? Sich äußernd unter der Prämisse, dass ihm nur die Bilder, Videos, Texte und Kommentare zur Verfügung stehen, die die Medien und die sozialen Netzwerke hergeben?

Ja, denn die Vorkommnisse auf den Straßen der Hansestadt erscheinen so ungeheuerlich, dass es an jedem einzelnen ist, hier seine Stimme zu erheben. Denn es geht um weitaus mehr als verbrannte Autos und eingeschlagene Fensterscheiben: es geht um essentielle Elemente einer Demokratie, die am letzten Wochenende gleich von mehreren G20-Beteiligten mit Füßen getreten wurde.

„Wir richten ja auch jährlich den Hafengeburtstag aus. Es wird Leute geben, die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist.“
Olaf Scholz, Erster Bürgermeister Freie und Hansestadt Hamburg im Juni beim DPA-Politik-Talk

So vollmundig versprach der Erste Bürgermeister Olaf Scholz einen sicheren G20-Gipfel für die Bürger seiner Stadt. Hamburg, eine Millionenstadt, erschien prädestiniert für die G20-Aufgabe. Mit hervorragender Infrastruktur und strahlendem Renommee als „Tor zur Welt“. Eine Stadt mit einer Führung, die bereit war, politische Verantwortung für die Welt zu übernehmen. Über-selbstbewusst wurde der Gipfel in der Hansestadt geholt und sollte Anti-Demokraten wie Erdogan, Trump und Co. ein Beispiel für gelebte Demokratie liefern — in festem Bewusstsein, dass Demonstrationen mit Gewaltpotenzial mit dem G20 einhergehen und wahrscheinlich sind.

Die Krawalle


Die Bilder, die sich während des G20-Gipfels abzeichneten, die Straßenschlachten, von den Anwohnern gefühlt als „bürgerkriegsähnliche Zustände“ erlebt, sind schlimm und haben sich in unser aller Bewusstsein eingebrannt. Die Intensität der Auseinandersetzungen ist unerträglich. Gerade, weil sich die linksextremen Randalierer durch omnipräsente Aggression und gewalttätige Aktionen gegen alle jeglichem Interessenszweck entsagt haben. Die Bereitschaft der Krawallmacher, Leben von Polizisten, Anwohnern, Pressevertretern und friedlichen Demonstranten auszulöschen, des reinen Aufruhrs wegen, ist so infam und absolut intolerabel, dass es mit lauter, solidarischer Stimme bekämpft werden muss. Dazu sind nicht nur diejenigen aufgerufen, deren friedlicher, antikapitalistischer Protest von den Gewalttätern übertüncht wurde, sondern alle, die an die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Landes glauben. In der Aufarbeitung der Geschehnisse rund um den Gipfel bleibt zu hoffen, dass es dem Staat und seinen judikativen Behörden im Nachgang gelingt, noch möglichst viele Täter zu identifizieren und in aller gebotenen Härte der Rechtsprechung zuzuführen.

Die Polizeistrategie

Unstrittig ist, dass die G20-Proteste außer Kontrolle geraten sind. Plünderungen, hunderte verletzte Polizistinnen und Polizisten, die Schanze verwüstet, die Straße „Schulterblatt“ durchpflügt wie in einem Kriegsgebiet. Die so oft von Polizei-Einsatzleiter Hartmut Dudde beschworene „Hamburger Linie“ ist in Gänze gescheitert. Und das nicht nur mit dem fahlen Beigeschmack, dass Randalierer einen riesigen sachlichen Schaden anrichten konnten, sondern auch, dass hier ein Staatsversagen in den Raum gestellt werden muss. Die Sicherheit der Hamburger Bürger in den entsprechenden Vierteln während der G20-Demonstrationen konnte streckenweise nicht mehr sichergestellt werden. Und das hinterlässt neben den offensichtlichen Schäden auch einen Knacks im Verständnis von Staat und seinen Fürsorgepflichten.


Völlig unklar und durch Dudde bislang ungeklärt bleibt, wie es zu der bipolaren Polizeistrategie kommen konnte. Ließ die Polizei noch vor dem G20-Wochenende in rabiater Präsenz mit Hundertschaften Zeltlager verhindern und bunte Iglozelte abräumen, erschienen die Stunden, in denen das „Schulterblatt“ völlig in der Hand der anarchistischen Krawallmacher — ohne Räumung oder Stürmung durch die Polizei — lag, schier unendlich.

Es bleibt schleierhaft, was Duddes Strategie bezwecken sollte. Die Polizei verlor die Sympathie und öffentliche Meinung bereits vollends, bevor der erste Stein überhaupt flog. Das Iglozelt wurde zum Schlüsselreiz für Chaoten und Gewalttäter. Die arrogante, proaktive und aggressive Vorgehensweise der Polizei erschien den Gewalttouristen Rechtfertigung genug, die sowieso schon angestrebte Anarchie in den Vierteln Hamburgs auf noch intensivere und blutige Weise zu suchen.


Was bleibt ist die Erkenntnis, dass die Polizei mit ihrer Strategie beide von Gesetzes wegen dedizierte Ziele verfehlt hat: das Grundrecht auf Demonstration zu schützen und Gewalttätigkeiten zu verhindern bzw. die Täter vollumfänglich dingfest zu machen.

Das Aushebeln des Rechtsstaats

Bezeichnend in der Hamburger Polizeistrategie scheint, dass die Rechtsgrundlagen häufig erst nach dem Einsatz gesucht wurden. Als auffällig sind hier die vielen Augenzeugenberichte zu nennen, die von einem initialen Vorgehen der Polizei berichten. Häufig eben auch mit Einsatz von unmittelbarer Gewalt ohne entsprechende Verfügungen zuvor ausgesprochen zu haben.

Die proaktive Härte sollte wohl gegenüber gewalttätigen Demonstranten ein entsprechendes Wirkungsimage aufsetzen. Bloß wurden so gewalttätige Chaoten und friedliche G20-Krtiker durch diese Taktik über einen Kamm geschert. Dass zuhauf friedliche Protestler Opfer von solchen Polizeiaktionen geworden sind, muss thematisiert werden. Denn ein polizeiliches Handeln des Images wegen setzt den Rechtsstaat außer Kraft.


Besonders fragwürdig erscheint in diesem Kontext auch der Umgang mit Journalisten. Der Entzug von Presseakkreditierungen durch das Bundeskriminalamt bleibt intransparent, die Einschränkung der Pressefreiheit willkürlich und ohne Rechtfertigung. Zudem tobten die Datenschutzbeauftragten: die „schwarzen Listen“ und die Handhabung solcher stellen schwere Datenschutzverstöße dar.


Es scheint, als hätten die Behörden während des G20-Einsatzes aus Machtlosigkeit das Tuch der Verhältnismäßigkeit im Umgang mit deutschen Grundrechten zerschnitten. Ein untragbarer Zustand, der dringender Aufarbeitung bedarf. Und gegebenenfalls auch personelle Konsequenzen, wenn sich — wie beispielsweise im Falle des Polizeieinsatzleiters — bewusst und wiederholt in Kauf genommene Verstöße gegen rechtliche Grundlagen als Muster erkennbar werden.

Die Leidtragenden

Schon das Bauchgefühl offenbart einem, dass der G20-Gipfel nur Verlierer hervorgebracht haben kann. Das bleibt nicht aus, wenn man bewusst oder unterbewusst die Ereignisse in Relation mit den politischen Ergebnissen des Gipfels setzt. Reduziert man seine Perspektive auf das Innenpolitische, so kristallisieren sich zwei Personengruppen schnell als Leidtragende des Gipfels heraus.

Allen voran die Hamburger Bürger, deren Geschäfte verwüstet wurden, deren Kleinwagen in Brand gesetzt wurden oder deren häusliche Privatsphäre auf tiefste Maß von den Randalierern gestört wurde. Diesen Bürgern und auch vielen anderen, die die Bilder im Fernsehen oder in den sozialen Netzwerken verfolgt haben, muss sich zwangsläufig die Frage stellen, ob dieser Staat in solchen Szenarien noch in der Lage ist, seine Bürger zu beschützen. All seinen Bürgerinnen und Bürgern ist der Staat schuldig, sich mit den abgelaufenen Ereignissen intensiv auf allen Ebenen auseinanderzusetzen. Der G20-Gipfel in Hamburg dürfte sich in seiner innenpolitischen Wichtigkeit in die Reihe Brokdorf, Wackersdorf und Startbahn-West einreihen. Eine Aufarbeitung ist gesellschaftlich zwingend erforderlich.

Als Bauernopfer aus verfehlter Polizeistrategie und behördlicher Arroganz darf sich jeder abgeordnete Polizeibeamte fühlen. Es bleibt festzuhalten, dass die einzelnen Kräfte, die aus dem Ausland und allen Bundesländern zusammengezogen wurden, im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf zur Garantie von Versammlungsfreiheit und friedlicher Meinungsäußerung hingehalten haben. Die Zahl von 476 verletzten Polizeibeamten ist erschreckend und inakzeptabel hoch! Die Zahl der abgeleisteten Dienststunden ohne vernünftige Pausen ist noch erschreckender. Wie mehrfach schon aufgezeigt, ist der Staat gefragt, solche Lagen auch im Hinblick auf die Einsatzbedingungen nachzubearbeiten. Die große Sympathie der Hansestadt-Bürger und aus ganz Deutschland für die Leistung der einzelnen Polizeibeamter hat seine absolute Berechtigung.

Die Schwarz-Weiß-Diskussion

Dass die Ereignisse rund um den G20-Gipfel in Hamburg aufgearbeitet werden müssen, darüber besteht ein gesellschaftlicher Konsens. Die ersten Schritte werden durch die Medien, Politiker und Verantwortlichen bereits ergriffen. Wie so häufig ist hier jedoch eine klare Lagerbildung erkennbar: ein Schwarz-Weiß-Denken – auch mit Pauschalisierung auf „Links-/Rechtsterrorismus“ im Generellen – hilft an dieser Stelle nicht. Die Differenzierung der einzelnen Ebenen der Geschehnisse erscheint hier unabdingbar. Die Politik täte sich gut daran, ausnahmsweise mit gutem Beispiel voranzugehen.


Es steht an, aus „G20 Hamburg“ die Lehren zu ziehen. Unsere Demokratie hat ein Weiterentwicklungsbedürfnis offenbart, hat Schwachstellen im Umgang mit den Grundrechten offenbart. Es bleibt die Hoffnung, dass die ehrliche Aufarbeitung durch die Politik zügig vorangetrieben wird, gegebenenfalls auch verbunden mit dem Ersetzen von Funktionsträgern. Bleiben die Lehren aus der G20-Erfahrung aus, werden wir uns an Bilder wie aus dem „Schulterblatt“ bei zukünftigen politischen Großereignissen wohl gewöhnen müssen.

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